„Beidhändiger Glaube“

Christen, darunter verstehe ich Menschen, die sich bewusst in die Nachfolge Jesu Christi haben rufen lassen, verdanken nichts ihrem eigenen Bemühen, sondern alles dem Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus. Dabei wollen wir uns immer bewusster machen, dass nicht nur das Gute, Schöne und Froh-machende, sondern auch das Leidvolle, Schmerzliche und Schwere von Gott kommt.

Dazu will der himmlische Vater uns alle durch einen „beidhändigen Glauben“ befähigen. Dieser Begriff stammt nicht aus der Bibel, sondern von Gregor von Nyssa (338 – 394 n.Chr.), der einmal den Glauben seines älteren Bruders Basilius (330 – 379 n.Chr) als „beidhändig“ bezeichnete, weil dieser, bildlich gesprochen, mit der einen Hand die Annehmlichkeiten und Segnungen und mit der anderen das Leiden und die Probleme aus Gottes Hand entgegennahm, überzeugt davon, dass beides Gottes Absichten entspricht. Dasselbe brachte auch Hiob zum Ausdruck als er sagte: „Das Gute haben wir von Gott angenommen, sollten wir dann das Böse nicht auch annehmen?“ (Hiob 2,10)

1. „Beidhändiger Glaube“ bedeutet, sowohl das Gute ...

Zuerst eine Frage: Sind deine Grundannahmen über das Handeln Gottes zutreffend oder nicht? Bei vielen Christen habe ich so meine Zweifel. Sie verehren den liebenden Vater, wie Ihn Jesus uns vorgestellt hat, denn wir brauchen dringend Liebe, Gnade, Vergebung und Freundlichkeit - Eigenschaften, die nur ein persönlicher Gott bieten kann. Soweit, so gut.

Aber oft machen wir uns zu wenig Gedanken über das, was die Bibel „Gnade“ nennt und bringen deshalb Gottes liebevolles Handeln viel eher mit uns selbst, unserer Verfassung, unserem Tun und Lassen in Verbindung, als mit der Gnade Gottes, die uns um Jesu willen umsonst geschenkt wird. Wir meinen dann, oft unbewusst, wenn wir liebevoll, ordentlich, gesetzestreu und wohlanständig sind, dann segnet Gott uns, dann tue Er uns wohl, dann erhört Er unsere Gebete. Dabei übersehen wir völlig, dass jede Leistung unsererseits für das Geschenk Gottes, dieses völlig zerstört und total leer dastehen lässt.

Das kann dazu führen, dass wir nicht nur Schwierigkeiten haben, etwas von Gott anzunehmen, wenn wir es am dringendsten brauchen, nämlich wenn wir uns schmutzig, untreu, schwach und befleckt vorkommen, sondern dass wir auch in große Schwierigkeiten geraten, wenn uns Leid oder Schweres trifft. Dann nämlich laufen die gegenläufigen Gedanken ab: „Aha, jetzt werde ich von Gott für meine Sünden bestraft. Welche Sünde hat mir denn diesen Kummer einbracht?“ - Anders können viele sich Schweres und Notvolles in ihrem Leben gar nicht mehr erklären. Diese Gedankengänge sind jedoch grundfalsch, weil sie die Gnade Gottes missverstehen.

Und dabei habe ich festgestellt: Je persönlicher meine Vorstellungen von Gott wurden, desto beunruhigender wurden die Fragen, die sich aus Seinem Tun und Lassen ergaben. „Sollte ein liebevoller Gott nicht häufiger zu meinen Gunsten eingreifen? Wie kann ich einem Gott vertrauen, dessen Hilfe ich mir nie ganz sicher sein kann?“

Manche Christen leben so, als würde Gott und Satan bei jedem einzelnen irdischen Geschehen ein Tauziehen veranstalten, dessen Ausgang offen ist. Solche Gedanken sind jedoch des biblischen Gottes unwürdig und haben darüber hinaus schlimme Auswirkungen auf unser Leben. Richtig ist: „Gott muss alles dienen.“ (Psalm 119,91)

Am deutlichsten erwies sich das beim Tod unseres Heilandes. Wie viele Lügen, wie viel Untreue und Hass, Sünde und Schuld brachten Jesus ans Kreuz. Und doch benutzte der Vater dies alles, um die größte Liebestat daraus werden zu lassen, welche die Welt je gesehen hat: die Erlösung der gesamten Schöpfung.

Wenn Gott nun aber aus dem fluchwürdigsten aller Verbrechen einen solchen Strom von Wohltaten fließen lassen kann, dann erkennen wir, dass Ihm tatsächlich alles dient und dass Er in der Lage ist, auch das Sündigste, Schrecklichste und Verdrehteste so einzusetzen, dass alles zum Erreichen Seiner Liebesziele beitragen muss.

2. ..als auch das Unverständliche von Gott anzunehmen.

Das Gute haben wir von Gott angenommen, sollten wir dann das Böse nicht auch annehmen?“ (Hiob 2,10) Wir müssen zur Kenntnis nehmen: Gott heißt nicht alles gut, was passiert! Wenn ein Reisebus mangels vernünftiger Wartung verunglückt und 34 Menschen sterben, ist das von menschlicher Warte aus gesehen unverständlich und rätselhaft. Gut, man kann von einem „Wunder“ sprechen, dass nicht alle Insassen tot waren, oder dass zwei Personen im letzten Augenblick die Reise absagen mussten. Ich höre solche Berichte aber immer mit sehr gemischten Gefühlen, denn ich frage mich: Wie klingen solche Erklärungen in den Ohren derer, die durch den Unfall liebe Menschen verloren haben?

Vieles, was in dieser Welt geschieht, steht eindeutig nicht im Einklang mit dem Willen Gottes. Höre dir die Botschaft der Propheten an, die gegen Götzendienst, Ungerechtigkeit, Gewalt und andere Symptome menschlicher Sünde und Rebellion wetterten. Lies die Berichte der Evangelien, in denen Jesus das religiöse Establishment verärgerte, weil Er Menschen von Behinderungen befreite, die von den Theologen als „Gottes Wille“ gedeutet wurden. Die Vorsehung ist ein großes Geheimnis. Dennoch ist es falsch, Gott die Schuld für das zu geben, was Er so deutlich anprangert.

Es gibt in deinem Leben immer Umstände, die dir Angst machen: Wenn es nicht Krankheit ist, dann Geldmangel; wenn nicht Armut, dann Ablehnung, wenn nicht Einsamkeit, dann das Versagen. In einer solchen Welt stehst du andauernd vor der Entscheidung: Entweder fürchte ich Gott oder alles andere; entweder vertrauen ich Gott oder gar niemandem.

Als Christ sollte ich es lernen, mein Leben immer mehr aus der Perspektive des Vertrauens und nicht aus der der Angst zu leben. Ein fester werdender Glaube hilft mir, darauf zu vertrauen, dass Gott auch angesichts des gegenwärtigen Chaos´ mein Geschick lenkt; dass ich einem Gott der Liebe nicht gleichgültig bin, egal, wie wertlos ich mich gerade fühle; dass kein Leid ewig dauert und der Böse am Ende nicht triumphiert.

Skeptiker werden jetzt einwenden, dass ich eine klassische Rationalisierung präsentiere: Von meiner Prämisse ausgehend, manipuliere ich fortan alle Beweise, um diese Prämisse zu stützen. Das ist richtig. Ich setze die Existenz eines guten und liebevollen Gottes als oberstes Prinzip des Universums voraus; alles, was dieser Voraussetzung widerspricht, muss eine andere Erklärung haben.

Im Grunde spielt es gar keine Rolle, ob meine Krankheit eine Züchtigung Gottes, ein bloßer Zufall oder ein satanischer Angriff ist. In jedem Fall kann und soll ich Gott vertrauen, denn Jesus hält Sein Wort, das Er mir gegeben hat: „Ihnen gebe Ich das ewige Leben, und sie werden niemals umkommen. Niemand kann sie aus Meiner Hand reißen.“ (Johannes 10,28)

3. „Beidhändiger Glaube“ erwächst aus dem liebenden Vertrauen zum himmlischen Vater.

Das Gute haben wir von Gott angenommen, sollten wir dann das Böse nicht auch annehmen?“ (Hiob 2,10)

Ein reifer Glaube, der sich sowohl durch Einfachheit als auch durch Treue auszeichnet, lässt eine Lebenseinstellung wachsen, die alle Ereignisse des Lebens vertrauensvoll mit dem liebenden Gott in Beziehung bringt. Wenn etwas Gutes geschieht, nehme ich es als Geschenk Gottes an und danke Ihm dafür. Wenn etwas Schlechtes passiert, erkenne ich darin keinen Grund, mich von Gott loszusagen. Vielmehr vertraue ich darauf, dass Gott sogar das Schlechte zu meinem Besten verwenden kann. Wenigstens strebe ich das an. Wenn wir einen guten Gott nicht mit schwierigen Umständen in unserem Leben in Einklang bringen können, belastet dies unser Vertrauen in Ihn. Das aber muss nicht sein und schon gar nicht so bleiben.

Allerdings lösen sich dadurch die Einwände der Skeptiker nicht in Luft auf. Wie kann ich Gott für das Gute in meinem Leben loben, ohne Ihn für das Schlechte zu kritisieren? Das geht nur, wenn mein Leben von einer Einstellung des Vertrauens geprägt ist, die sich auf das gründet, was ich in der Beziehung mit Gott erfahren habe.

In menschlichen Beziehungen entdecke ich Parallelen. Wenn ich am verabredeten Ort auf meine Frau warte und sie eine Stunde später immer noch nicht da ist, schimpfe ich nicht über ihre Unpünktlichkeit; nach 54 Jahren Ehe weiß ich, dass sie normalerweise pünktlich ist. Deshalb vermute ich, dass irgendetwas, das sie nicht beeinflussen konnte, dazwischen gekommen ist! - Wenn ich jemanden liebe, dann nehme ich bei der Beurteilung von Ereignissen das Gute für ihn an und bemühe mich, ihm nicht gleich die Schuld für das Schlechte zu geben, denn es könnten ja möglicherweise noch andere Erklärungen geben. Wir haben es uns angewöhnt, einander zu vertrauen.

So möchte ich auch meine Beziehung zu Gott charakterisieren. Ich habe Ihn als Einen kennen gelernt, der sich Zeit lässt und ich erkenne in Seiner Geduld den Beweis für Seine Gnade und Sein Verlangen, lieber um den Menschen zu werben, als ihn zu bedrängen. Ich habe gelernt, Gott zu vertrauen, und wenn irgendeine Tragödie oder etwas Böses geschieht, das ich nicht in Einklang mit dem Gott bringen kann, den ich kennen und lieben gelernt habe, dann suche ich nach anderen Erklärungen. (In diesem Zusammenhang zeigt sich auch eine andere gestörte Haltung Gott gegenüber: Wir sind bestürzt und traurig, wenn ein Flugzeug abstürzt und die Insassen umkommen. Aber danken wir Gott jemals für die tausende Flugzeuge, die täglich sicher landen?)

Vertrauen zu Jesus ist selbst unter komplexen Bedingungen sinnvoll: Wenn es gilt, einen Hund aus einer Falle zu befreien, einem Kind einen Dorn aus dem Finger zu ziehen, einen Nichtschwimmer vor dem Ertrinken zu retten oder einen ängstlichen Anfänger im Gebirge über eine schwierige Stelle zu lotsen - dann ist ihr Mangel an Vertrauen zu uns das einzige, aber entscheidende Hindernis für die Rettung. Denn wir erwarten von ihnen Vertrauen - trotz ihrer negativen Gefühle, ihrer Einbildungskraft und ihrer Intelligenz. Wir verlangen von ihnen, uns zu glauben, dass das Schmerzhafte den Schmerz lindert und nur das Gefährliche Sicherheit bringt.

Wir verlangen von ihnen, das scheinbar Unmögliche anzunehmen: dass man die Pfote aus der Falle zieht, indem man sie zuerst tiefer hinein stößt - dass man den Schmerz im Finger beseitigt, indem man einen kurzen heftigeren Schmerz zufügt - dass man das Sinken nicht dadurch vermeidet, indem man sich verzweifelt an den Retter klammert - dass der Absturz nur dadurch vermieden wird, indem man auf ein höher gelegenes Felsband klettert.

Hier kann nur an das Vertrauen des anderen appelliert werden. Wir können ihn nur zum Vertrauen einladen, für das es keinen Beweis gibt, das vielleicht stark von Gefühlen beeinflusst ist und vielleicht - falls wir uns fremd sind - auf nichts anderem beruht als auf der Sicherheit, die der Ausdruck unseres Gesichts und der Ton unserer Stimme bieten. Manchmal können wir wegen des Unglaubens der Betroffenen nichts ausrichten. - Wo wir aber Erfolg haben, da verdanken wir ihn ihrem Vertrauen, an dem sie trotz scheinbar entgegenstehender Beweise festgehalten haben. Niemand tadelt uns, weil wir ein solches Vertrauen fordern. Niemand tadelt sie, weil sie es uns schenken.

Die Botschaft des Evangeliums anzunehmen, heißt nun aber Gott so zu vertrauen, wie der Hund, das Kind, der Badende oder der Bergsteiger, von denen die Rede war, sich zu uns verhalten - nur in sehr viel höherem Maße.

Ich vertraue Jesus, dass alles, was mir zustößt, sogar das Gegenteil meiner persönlichen Wünsche, von Ihm in Nutzen und Gewinn für mich umgewandelt werden kann. Ein lebendiger Glaube ist nichts anderes als das unbedingte Vertrauen zu Gott und zwar durch alles hindurch, was Ihn verhüllen, entstellen, als hartherzig oder gar uninteressiert erscheinen lassen will.

Ich glaube, dass die ganze Weltgeschichte letzten Endes dazu dient, Gottes Absichten mit dieser Erde zu verwirklichen, ganz gleich, in welchem Licht die Dinge mir heute erscheinen mögen. Der Skeptiker mag darauf beharren, dass ich Gott auf diese Weise aus der Patsche helfe, aber vielleicht geht es im Glauben ja genau darum: auf Gottes Güte zu vertrauen, auch wenn jeder sichtbare Beweis dagegen spricht.

Ich bin ganz sicher, dass nichts uns von seiner Liebe trennen kann: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Dämonen, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, noch irgendwelche Gewalten, weder Himmel noch Hölle oder sonst irgend etwas können uns von der Liebe Gottes trennen, die er uns in Jesus Christus, unserem Herrn, bewiesen hat.“ (Römer 8,38-39)



Manfred Herold


Manfred Herold