Brauchen die Juden Jesus?

Um das Christentum verstehen zu können, ist es notwendig, einige Grundwahrheiten des Judentums zu kennen. Denn das Christentum bleibt ohne das Judentum unverständlich. Dieser Zusammenhang wird von vielen Christen nicht gesehen.

Unter Christen trifft man heute häufig zwei extreme Einstellungen zu Israel an. Die Einen reden nur von dem, was uns vom Judentum trennt, bis hin zur Leugnung der ewigen Erwählung des Volkes Israel. Die Anderen sehen nur das Verbindende, sprechen nur von Solidarität und halten alles was in Israel geschieht für richtig und gut. Die erste Haltung führte zum Antisemitismus aller Schattierungen und die zweite zu einem undifferenzierten Philosemitismus. Beides bringt uns nicht weiter!

In der Geschichte der Christenheit wurden die Unterschiede zwischen Juden und Christen immer stärker betont als die Gemeinsamkeiten. Aus dieser Frontstellung müssen wir heraus, um wieder in den geistlichen Wettbewerb einzutreten, von dem Paulus in Römer 11,13-14 schreibt: „Ich richte mich jetzt an die Nichtjuden unter euch. Mein Auftrag als Apostel gilt den nichtjüdischen Völkern, und ich bin dankbar dafür. Denn vielleicht kann ich durch meine Missionsarbeit die Angehörigen meines eigenen Volkes eifersüchtig machen und so wenigstens einige von ihnen retten.

Ebenso ist es mein Wunsch, dass wir durch unsere Missionsarbeit Juden zur Eifersucht reizen, damit auch sie sich von ihrem und unserem Gott lieben und von Jesus Christus erlösen lassen.

Heute wird gefragt: Was haben wir Christen denn eigentlich den Juden zu geben, das sie nicht schon selbst besitzen? Brauchen die Juden Jesus?

1. Die Juden sind noch immer das Volk Gottes.

Gott rief und erwählte das jüdische Volk, bevor er uns aus den Nationen erwählte, obgleich er uns auch bei der Erwählung Israels nie aus dem Blick verlor. In Abraham sollten alle Geschlechter der Erde gesegnet werden. (1. Mose 12,3) Diese Berufung wurde niemals zurückgezogen, sondern in Jesus wurde diese Verheißung verwirklicht.

Gott kann und wird Israel niemals aufgeben. Sonst würde er unglaubwürdig. Wir müssen von der Bibel her laut widersprechen, wenn gesagt wird, dass Gott Israel verworfen und durch die Kirche ersetzt habe.

„Denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar.“ (Römer 11,29) Wir sollten Gott danken, dass er ein so treuer Gott ist und auch sehr schwierige Kinder nicht verstößt! Welch ein Trost für uns!

Die Sendung Jesu galt vor allem seinem jüdischen Volk, denn die Rettung Israels ist der Kernstück aller Heilsverheißungen Gottes. Deshalb sagte Jesus auch zu der kanaanäischen Frau: „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.“ (Matthäus 15,24)

Deshalb sandte er seine Jünger zunächst nur in Israel aus (Matthäus 10,6). - Brauchen die Juden Jesus? Die Antwort lautet damals wie heute: Ja!

Das Neue Testament lässt keinen Zweifel aufkommen: Was Jesus von Nazareth lehrte und lebte, was er litt und wie er starb, das war ein einzigartiges Ringen um Israel. Die Jünger Jesu, die selbst Juden waren, hatten spätestens unter dem Eindruck des Auferstehungserlebnisses erkannt, dass Jesus selbst das Ziel des jüdischen Glaubens ist. Mit ihm verbunden zu sein, bedeutete eben nicht eine Preisgabe des jüdischen Glaubens, sondern vielmehr dessen Erfüllung. Jesus ist kein Gegenüber zum jüdischen Volk, sondern sein Tod und seine Auferstehung wurde zum zentralen Ereignis Gottes für Israel.

Genau das gilt es heute den Juden deutlich zu machen und ihnen so einen großen Teil ihrer berechtigten Ängste zu nehmen. Die Botschaft Jesu war und ist für Juden, wie für uns, ein Ruf zurück ins Vaterhaus. Bist du dieser Einladung bereits gefolgt?

Wer an Jesus Christus glaubt, bekommt durch ihn Anteil am Segen Abrahams. Bis zum heutigen Tag werden alle Nichtjuden durch den Glauben in das Volk Gottes eingegliedert. Christen bilden kein eigenes Volk Gottes. Sie werden „Mitbürger mit den Heiligen und Hausgenossen Gottes“ (Epheser 2,19). Sie sind nicht mehr „ausgeschlossen vom Bürgerrecht Israels und ohne Anteil an den Bündnissen der Verheißung“ (Epheser 2,12). Die Einheit des messianischen Gottesvolkes aus Juden und Nichtjuden, wird im Neuen Testament sehr stark betont. Christus hat „die beiden (Juden und Heiden) in einem Leibe mit Gott durch das Kreuz versöhnt“.

Deshalb können wir aus den Heiden Gerufenen niemals an Israel vorbei glauben, sondern werden zu einem Zeichen und damit zu einem Zeugnis für Israel. „Sind die Juden damit unwiderruflich verworfen? Nein; sondern weil sie nicht hörten, kam die Rettung zu den anderen Völkern. Dadurch sollen die Juden eifersüchtig gemacht werden.“ (Römer 11,11) Wer immer aus den Heiden zu Jesus findet, der findet auch zu Israel.

Aus all diesem folgt, dass wir uns mit Israel befassen müssen und es nicht in unser Belieben gestellt ist, uns für oder gegen einen Auftrag an Israel zu entscheiden. Brauchen die Juden trotz ihrer Erwählung Jesus? Ja, gerade weil sie Erwählte sind, brauchen sie Jesus zuerst.

2. Die Juden haben keinen eigenen Weg zu Gott.

Israel sollte Gottes „Mustervolk“ sein. An ihm sollten die anderen Völker ablesen können, was es heißt, zu Gott zu gehören. Deshalb offenbarte Gott seinem Volk seinen Willen im Gesetz. Dieses hatte von jeher eine gewisse Diagnosefunktion, keineswegs aber eine Therapiefunktion (Römer 3,20). Das Gesetz definiert die Sünde, doch es kann sie nicht verhindern oder überwinden.

Auf die Frage: „Wie kann ich vor Gott bestehen?“ antwortet der Jude: „Wenn ich sein Gesetz befolge!“ Doch diese Antwort ist untauglich, denn niemand kann das Gesetz halten. Dieser Umstand forderte Gottes Erbarmen heraus, so dass er Israel den einen Juden, Jesus, sandte, der das Gebot Gottes hielt und damit erfüllte. Zugleich erfüllte Jesus dadurch die Bestimmung Israels, Sohn Gottes zu sein. Denn Sohnschaft erfüllt sich im Gehorsam.

So konnte Jesus an unsere Stelle treten und den Fluch, der uns galt, auf sich nehmen (Galater 3,13). Das Gesetz hatte somit seinen Dienst getan, weil Christus es für uns erfüllte. „Wer an ihn glaubt, ist gerecht.“ (Römer 10,4) Das Gesetz hat nun keine Forderungen mehr an die zu stellen, die zu Christus gehören.

Trotzdem sind wir nicht „gesetz-los“, sondern wir erfüllen die Forderungen des Gesetzes durch den in uns wohnenden Geist (Römer 8,4; 13,8-10; 1. Timotheus 1,8-10) und erreichen so das Ziel unserer Berufung (Epheser 1,4-6).

Wenn das schon für uns, die wir dem Gesetz Gottes keinen solch hohen Stellenwert einräumen, eine dermaßen Gute Nachricht ist, wie viel mehr für Juden, die sich in einer uns oft beschämenden Art und Weise um die Einhaltung der Gebote Gottes bemühen! Deshalb muss Israel das Evangelium von Jesus Christus hören, damit sie an ihn glauben lernen und gerettet werden.

Es ist Jesus, der die Synagoge von der Kirche trennt. Denn es ist einfach nicht zu beweisen, dass Jesus der Messias Israels ist. Dies erkennt allein der Glaubende.

Die rabbinische Lehrtradition hat ihre Stellungnahme Jesus gegenüber bereits sehr früh (2. Jahrhundert) verkündet. Jesus wurde in den Bann getan, also aus der Synagoge ausgeschlossen. Seit jener Zeit gilt Jesus als ein von Israel Ausgestoßener, ein Vertilgter. Dieses Urteil gilt nach jüdisch-orthodoxer Auffassung auch heute noch jedem Juden, der sich zu diesem Thole (= Gehenkten) bekennt.

Deshalb sagte noch vor kurzem ein Vertreter des Innenministeriums klar und deutlich: „Juden dieser Kategorie sind in unserem Volk und Land unerwünscht!“ Im Frühjahr 1979 hatte das oberste Gericht Israels in einem Präzendenzurteil entschieden, dass für jüdische Christen die Rückkehrgesetze nicht gelten und sie deshalb keinen Anspruch auf die israelische Staatsbürgerschaft haben.

Schalom Ben-Chorin, der bekannte Reformjude sagt den Christen: „Der Glaube Jesu verbindet uns, der Glaube an Jesus trennt uns!“ Das klingt gut, ist es aber nicht. Denn nur der Glaube AN Jesus bezeugt eine Gerechtigkeit (Johannes 11,27; Römer 3,22f), die vor Gott gilt.

Es geht bei der Frage, ob Judenmission geübt werden soll oder nicht, im Grunde um die Christus-frage: Ist Jesus der Messias oder ist er es nicht. Wer uns zumutet, auf Mission unter Juden zu verzichten, der fordert uns auf: „Sag, ER ist es nicht!“ Weil aber Jesus der Messias Israels ist, deshalb ist er auch für Israel DER EINZIGE Weg zum Vater. Es gibt sonst keinen. Deshalb muss auch Israel das Evangelium von Jesus Christus hören, damit es an ihn glauben und gerettet werden kann.

Welch ein Vorrecht ist es, die Gute Nachricht vom Retter Jesus Christus zu hören und ihr Vertrauen schenken zu dürfen! Hast du das schon für dich getan?

3. Die Juden behalten einen Vorrang bei Gott.

Der Apostel Paulus stellte die Frage: „Was haben die Juden denn für einen Vorzug?“ und antwortete darauf: „Fürwahr sehr viel!“ (Römer 3,1f) Während die übrigen Völker noch in der Nacht der Gottesferne und des Götzendienstes umherirrten, fiel in Israels Leben bereits das helle Licht der Gottesoffenbarung. Aber allein dadurch, dass es den Weg kannte, den es gehen sollte, hatte es noch längst nicht die Kraft, ihn auch zu gehen.

Aber diese Vorrangstellung hat auch eine sehr ernste Kehrseite. Diese besteht darin, dass Israel auch stets zuerst und am furchtbarsten Gottes Richterhand zu spüren bekam. Wie Israel einen Vorzug beim Empfang der Gnade hatte, so waren sie auch die ersten im Gericht. (Römer 2,9+10) Auch an Israel bewahrheitet sich: „Wem viel gegeben worden ist, von dem wird auch viel verlangt. Je mehr einem Menschen anvertraut wird, desto mehr wird von ihm gefordert.“ (Lukas 12,48)

Wir dürfen nie vergessen, dass die Kirche Jesu Christi im jüdischen Volk entstand. Die urchristliche Gemeinde sah sich als Teil der Synagoge. Und nicht sie hat sich von der Synagoge getrennt, sie wurde ausgeschlossen und dadurch entstand „Kirche“. Dem „Nein“ Israels verdankt die Kirche ihre Existenz.

In Römer 11,17 vergleicht Paulus die Stellung der Gerufenen aus den Völkern mit wilden Zweigen, die Gott in den edlen Ölbaum Israel einpfropfte. „Einige Zweige dieses Baumes - ich spreche von Gottes auserwähltem Volk - sind herausgebrochen worden. An ihrer Stelle wurdet ihr als Zweige eines wilden Ölbaums aufgepfropft, so dass ihr von den Wurzeln und Säften des edlen Ölbaums lebt.“ (Römer 11,17)

Die Wurzeln der Kirche liegen im jüdischen Volk. Sie lebt deshalb bis heute von „den Wurzeln und Säften des edlen Ölbaums“, z.B. dem Alten Testament. Deshalb müssen wir besonders die Mahnung des Apostels beachten: „Bildet euch aber deshalb nicht ein, besser als die herausgebrochenen Zweige zu sein! Denn nicht ihr tragt die Wurzel, sondern die Wurzel trägt euch. Freilich könnte jemand einwenden: «Man hat die Zweige doch herausgebrochen, damit ich dort Platz habe.» Das ist richtig, sie wurden herausgebrochen, weil sie nicht glaubten. Und ihr seid an ihrer Stelle, weil ihr glaubt. Seid deshalb nicht hochmütig, sondern passt auf, dass es euch nicht genauso ergeht.“ (Römer 11,18-20)

Sind wir uns als Gemeinde bewusst, dass wir ohne die Wurzel Israel nicht lebensfähig sind? Bist du dir bewusst, wie viel du persönlich als Christ Israel verdankst? „Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht, ist es doch Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden, sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen.“ (Römer 1,16)

Es gibt Christen, die meinen, nach Auschwitz könne kein Deutscher mehr einem Juden das Evangelium von Jesus Christus weitersagen. Aber, was immer auch geschehen sein mag, und es ist Entsetzliches geschehen, das Verhältnis zwischen Christen und Juden bleibt grundsätzlich vom Missionsbefehl Jesu Christi bestimmt, der seinen Jüngern den klaren Auftrag gab, das Evangelium weiterzusagen und das „zuerst in Jerusalem“. Wenn die Kirche diesem Befehl, das Evangelium vom Messias Jesus dem jüdischen Volk zu verkündigen, nicht gehorcht, so ist das ein schlimmer „Antisemitismus“ und macht uns erneut schuldig vor Gott und an seinem Volk.

Gesandt zu Israel“, ist eine bleibende Aufgabe der Kirche! Deshalb wollen wir Glaubensgeschwister in Israel kennenlernen, uns zu ihnen stellen, ihren Dienst an ihrem Volk unterstützen, ihnen in ihrer Not beistehen, ihrer im Gebet gedenken und sie mit einer kleinen Gabe finanziell unterstützen. Der Auftrag unseres auferstandenen Herrn lässt uns keine Wahl, denn es gilt auch für uns „.. den Juden zuerst..“

Darüber hinaus sollte unser Dank auch darin zum Ausdruck kommen, dass wir für das Lebensrecht des Staates Israel eintreten, dass wir gegen antisemitische Vorurteile und Lügen kämpfen, dass wir gern unser finanzielles Opfer geben und treu Fürbitte für Israel einlegen. Und das alles wollen wir tun im Namen des Herrn und Messias Jesus, der auch Israels Sünde getragen hat, der auch um Israels willen auferweckt wurde und der wiederkommen wird, Israel und der Welt zur Rettung.

Manfred Herold

Manfred Herold