Das erste Gebot

Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus herausgeführt habe. Du sollst keine andern Götter haben neben mir.“ (2. Mose 20,2-3)

Die Zehn Gebote beschreiben nicht das weite Feld menschlichen Handelns, sondern sie setzen äußerste, feste Grenzen. In den Geboten appelliert Gott nicht an die Einsicht des Menschen, er wirbt auch nicht um die Menschen, um womöglich auch noch den letzten zu gewinnen: Er erlässt sein Gebot. Damit will er klarmachen, dass es Grenzen gibt, über die nicht mehr verhandelt werden kann. Keines dieser Gebote stellt Gott zur Diskussion, bei keinem kann über eine liberalere Auslegung oder eine zeitgemäßere Handhabung verhandelt werden. Es gibt Grenzpunkte, die von uns beachtet werden müssen.

Gott redete, er offenbarte sich in seinem Wort. Und daran, dass hier Gott selbst „alle diese Worte redete“, hängt für den Glauben alles. Moral und Gewissen haben ihre Norm in den Menschen selbst. Die Gebote haben ihre Norm von Gott gesetzt bekommen. Der Glaube ist dem Unwandelbaren verpflichtet und deshalb im Unwandelbaren geborgen.

1. Die Selbstvorstellung Gottes

„Ich bin Jahwe, dein Gott ..“

Jahwe stellte sich zuerst als der Bundesgott Abrahams vor (1. Mose 15,7f). Übrigens, Gott gab die Zehn Gebote seinem Volk nicht am Anfang ihres gemeinsamen Weges, sondern erst nachdem er schon eine lange Geschichte mit ihm hinter sich hatte.

Übrigens dürfen die formalen Ähnlichkeiten moralischer Werte, die in den Zehn Geboten zum Ausdruck kommen, nicht über den grundsätzlichen Unterschied zwischen ihnen und dem Ethos (sittliche Gesinnung) anderer Völker hinwegtäuschen. Sie unterscheiden sich vor allem dadurch, dass sie von dem geschichtlich handelnden Erlösergott Israels gegeben wurden und von ihm, seinem Anspruch und Zuspruch nicht gelöst werden können.

Weiter sehen wir: Die Offenbarung Gottes ist kein innerer, verborgener Vorgang, sondern sie verbindet sich mit konkreten geschichtlichen Orten und Taten (hier das Reden Gottes auf dem Sinai). Die Offenbarung des Gottes der Bibel beruht nicht auf Ideen, nicht auf zeitlosen Weisheiten oder moralischen Gesetzen, sondern auf „großen Taten Gottes“ (Apostelgeschichte 2,11).

An dieser Stelle wird jeder Hörer zum Glauben eingeladen. Denn wenn Gott sich offenbart, kann der Mensch nur mit Glaube oder Unglaube antworten. Niemand, der noch Lebenden war bei der Erscheinung Gottes zu Abrahams Zeit dabei gewesen. Niemand konnte das Wort Gottes untersuchen und verifizieren, ob es sich um die Wahrheit handelte oder nicht. Niemand konnte wissen, ob hier tatsächlich Jahwe sprach oder ein anderer Gott, wenn es denn noch einen gibt. Jahwe gab die Zehn Gebote und deshalb sind sie dem Zugriff der Menschen entzogen, denn Jahwe ist unverfügbar.

Wenn Gott spricht, wenn er sich offenbart, ist das ein so einmaliger und einschneidender Vorgang, dass dem Menschen nur noch Glaube oder Unglaube übrig bleibt. Hier ist der Wille des Menschen gefragt. So ergeht auch heute an dich die Frage: Willst du glauben, dass Gott gerade jetzt zu dir spricht? Dann handle entsprechend.

2. Das Evangelium im Gebot

„.. der ich dich aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus herausgeführt habe ..“

Diese Worte machen den großen Unterschied zwischen den Gesetzen und Verordnungen anderer Völker und den Zehn Geboten aus. Jahwe stellt sich hier zuerst nicht nur als Herr, sondern auch als der geschichtlich handelnde Erlöser vor (Auszug auf Ägypten)!

Die Zehn Gebote beginnen also nicht mit einem allgemeinen moralischen Appell: „Du sollst!“, sondern mit dem souveränen Indikativ Gottes: „Ich bin!“ Sie beginnen nicht mit dem fordernden Gesetz, sondern mit dem schenkenden Evangelium. Sie stellen den Menschen nicht zuerst unter den Anspruch Gottes, sondern unter sei­nen wunderbaren Zuspruch: „Ich habe dich erlöst!“ So sind die Gebote nichts anderes als eine Form des Evangeliums, dessen Inhalt Gnade ist.

So besteht noch heute die Einzigartigkeit der Gemeinde darin, dass ihre Glieder durch den Glauben aus der Macht der Sünde Erkaufte, aus den Denk- und Lebensstrukturen dieser Welt Befreite, d.h. Getaufte sind. So wird schon in diesem ersten Satz des ersten Gebotes klar, dass es in allen Geboten im Grunde genommen um die Durchführung der großen Befreiung geht, der Befreiung aus den Fürchterlichkeiten einer sich selbst überlassenen Welt und des sich zum Maß aller Dinge aufspielenden Menschen. Alle Gebote sind Anweisungen zum Freisein, zur Freiheit in der Gebundenheit an diesen Gott, der unser Herr ist. Allen, die das wie Abraham glauben gelten diese Worte. Denn wo Gott wirklich der Herr ist, werden seine Knechte frei von der Knechtschaft anderer Götter und Herren.

Die heilbringende Gnade Gottes hat sein Volk erlöst und aus der Knechtschaft befreit. Das steht am Anfang: die Befreiung oder die Errettung aus Ägypten, aus der Herrschaft der Sünde. Am Anfang steht der Wille Gottes, seinem Volk gnädig zu sein und es zu befreien. Diese Gnade Gottes unter­weist und erzieht es, damit es „die Gottlosigkeit und weltlichen Lüste verleugne und besonnen und gerecht und gottesfürchtig lebe in dem jetzigen Zeitlauf, indem es die glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit seines großen Gottes erwarte“ (Titus 2,11‑13). Das ist der Sinn des Evangeliums und der Sinn der Zehn Gebote.

3. Der Ausschließlichkeitsanspruch Gottes

„.. Du hast keine anderen Götter neben mir.“

Wie selbstverständlich folgt nun der zweite Satz als Aussage in der Gegenwartsform: „Du hast keine anderen Götter neben mir!“ (Die gewohnte Übersetzung „Du sollst ...“ ist zu schwach) Wo Gott wirklich Herr in einem Leben ist, da haben andere Götter einfach keinen Platz mehr. (Wenn einer wirklich verliebt ist....) Gott will in diese exklusive Liebe hineinlocken und diese Liebe bedeutet Trennung von allen anderen. Jesus brachte es einmal so zum Ausdruck (Matthäus 6,24): „Niemand kann zwei Herren dienen! Entweder wird er den einen hassen und den andern lieben, oder er wird einem anhangen und den andern verachten.“ Unsere Freiheit wird nur in der Treue zu dem einen Gott erfahren.

Solchen spricht Gott zu: Weil du zu mir gehörst, werde ich dich ans Ziel meines Willens bringen! Deshalb bedeutet das „du sollst“ auf lange Sicht ein „du wirst“. Gottes Souveränität und Liebe lässt aus diesem Anspruch einen Zuspruch werden.

Deshalb sind die Gebote Weisungen des guten Hirten, der sein Volk damit durch die Wüste führt. Sie sind keine moralischen Zwangsmaßnahmen, sondern Ausdruck eines liebenden Herzens. Und genau diese Liebe ist es auch, die uns die Kraft zur Umsetzung dieser Gebote verleiht. Umgekehrt ist diese erwiderte Liebe zu Gott und zu dem Nächsten der Keim und die Zusammenfassung des ganzen Gesetzes, ja der ganzen Gottesbeziehung überhaupt.

Lieben kann aber nur, wer sich selbst geliebt weiß. Und genau dies sagt Gott in seiner Präambel seinem Volk zu. Er erinnert an seine mächtige Heils‑ und Be­freiungstat aus der Knechtschaft Ägyptens. Menschen, die von der Herrschaft der Sünde befreit worden sind, werden ihn von Herzen lieben und deshalb einfach keinen anderen mehr­ neben ihm lieben wollen (Taufe). Die Zehn Gebote erwarten also keinen blinden Gehorsam einem steilen Gesetz gegenüber, sondern dankbares Erinnern an den Gott, der gewaltig für sein Volk eintritt und handelt. Das unterscheidet die Gebote zutiefst von allen anderen Gesetzen und Vorschriften in dieser Welt.

Gott will, dass wir zwischen ihm und den anderen Göttern wählen, denn nur wer ihn als seinen Herrn wählt, wird frei. Angesichts des ersten Gebotes fallen alle wesentlichen Entscheidungen des Lebens.

Manfred Herold

Manfred Herold