Das fünfte Gebot

Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir gibt.“ (2. Mose 20,12)

Die Zahl der intakten Familien nimmt ständig ab. Es ist längst nicht mehr normal, dass der Mann im Haus auch der Vater oder die Frau im Haus die Mutter ist. Häufig hat der Vater keine Zeit, schlägt die Kinder wegen jeder Kleinigkeit, ist die Mutter überfordert oder betrunken. Die Kinder werden vor den Fernseher abgeschoben und irgendwann betrachten sie diese Lebensgestaltung dann als den Normal­zustand.

Auf der anderen Seite leiden auch immer mehr alte Menschen an Vereinsamung, sowie unter psychischer und physischer Gewalt. Es mehren sich die Stimmen, welche immer unverhohlener fordern, dem Leben ab einer gewissen Altersgrenze oder ab einer gewissen Krankheitsinten­sität ein Ende setzen zu können. Allein schon aus Kostengründen. Das müsse doch jedem einleuchten. (Ich gebrauche in dieser Predigt bewusst nicht den geschönten Begriff „Senioren“, sondern den kantigeren Begriff der „Alten“, weil er m.E. dem Sinn des 5. Gebots mehr entspricht.) - Droht ein „Krieg“ der „Jungen gegen die Alten“?

In diesem Zusammenhang betrachten wir das fünfte Gebot: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Land, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.“ Es ist ein Gebot zum Frieden unter den Generationen.

1. Die Stoßrichtung des Gebotes

Auf die Gebote, die Gott betreffen (1-4), folgen Gebote, die den Nächsten betreffen. Diese haben alle zweierlei gemeinsam: 1. Sie beziehen sich alle auf Situationen, in denen andere schwächer sind als wir und wir die Möglichkeit haben, ihnen etwas Unrechtes anzutun, sie an Leib, Hab und Gut, Ehe und Ehre zu schädigen. Darum tritt 2. Gott in diesen Geboten als der Beschützer der Schwächeren gegen unsere Macht auf. Deshalb und nur deshalb sind Gottes Gebote strenge Gebote, für uns oft unbequem: weil Gott als der Bundesgenosse der Schwächeren auftritt, als der Beschützer derjenigen, die in irgendeinem Sinne unserem eigensüchtigen Zugriff preisgegeben sind.

Zwar erscheint Gott im 5. Gebot auf den ersten Blick als Bundesgenosse der Eltern im Machtkampf mit den Kindern. Aber das Gebot ist nicht als Waffe für die Eltern gegen ihre aufsässigen Kinder gedacht: Es geht hier gar nicht um Erziehungsfragen und auch von Gehorsam ist hier nicht die Rede, wie man es jahrhundertelang hineingelesen hat.

Wir wissen mittlerweile: Autorität in der Erziehung, wie allgemein, kann nicht ange­maßt werden durch Amt, Bildung oder Stand, sondern sie wird erwor­ben durch Vertrauen, Kompetenz und Bereitschaft zum Dienst. Und auch das andere Extrem, Eltern als gleichrangige Kumpel anzusehen, die man mit dem Vornamen anre­det um sich so von der Eltern‑Kinder‑Rolle zu emanzipieren, bringt offensichtlich auch nicht entscheidend weiter.

Das 5. Gebot ist keine Verstärkung der Stärke der Eltern gegen die Kinder, sondern ein Schutz der Schwäche der Alten gegen die Jungen. Denn die Jungen sind die an Macht Zunehmenden, die Alten sind die an Macht Abnehmenden. Im Kampfe der Generationen aber versuchen die Alten oft ihre Machtposition gegen die Jungen möglichst lange zu behaupten, die Jungen nicht ranzulassen, sicherzustellen, dass alles möglichst lange nach ihrem Kopf geht - und die Jungen begehren dagegen auf und setzen gegen die Missachtung, die sie von den Alten erfahren, ihre Missachtung der Alten. In diesem Machtkampf lässt keiner den anderen wirklich gelten. Gott aber hat dafür gesorgt, dass es weder den Alten noch den Jungen auf diesem Weg gelingt.

Der Kampf der Alten ist ein Kampf auf verlorenem Posten. Wie zäh sie auch ihre Positionen fest zu halten und das Leben der Jungen nach ihren Prinzipien zu dirigieren suchen, eines Tages müssen sie abtreten und den Jungen Platz machen, und nun sind sie den Jungen ebenso hilflos ausgeliefert wie diese früher ihnen. Gott ist als Schöpfer der Zeit der Verbündete der Jungen, indem er sie zunehmen und die Alten abnehmen lässt. Und zugleich ist Gott mit seinem Gebot der Verbündete der Alten, indem er sie gerade für die Zeit schützt, wo sie zu keinerlei Kampf mehr fähig sind, wo sie sich vielleicht überflüssig vorkommen und nur noch ohnmächtig zusehen können, wie die Jungen alles nach ihrem eigenen Kopf machen.

An dieser Stelle wollen wir uns noch einmal die Rangfolge der Gebote bewusst machen. Sie ist typisch für die Bibel. Gott muss den ersten Platz in allem einnehmen, soll alles andere gelingen. Deshalb lehrte Jesus auch seine Jünger zuerst beten: „Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.“ Und dann erst: „Unser täglich Brot gib uns heute“ usw. (Matthäus 6,9‑13). Hier gilt, - wo Gott nicht geehrt wird, kommt es auch nicht zum angemessenen Respekt Vater und Mutter gegenüber.

2. Die Aufgabe des Gebotes

Es ist bemerkenswert, dass Va­ter und Mutter die einzigen Menschen sind, die im Dekalog ausdrücklich benannt werden. Das weist auf ihre herausgehobene Stellung als Beauftragte Gottes hin. Er schenkt nämlich jedem Menschen durch Vater und Mutter das irdische Leben. Deshalb sollen wir Vater und Mutter ehren.

Gott aber weiß natürlich, dass es keine sündlosen, fehlerfreien Eltern gibt. Dennoch hat er dieses Gebot erlassen und es gilt ohne Ausnahme allen Kindern. So will uns der Vater zum Vergeben, zum Frieden zwischen den Generationen verhelfen; dazu, dass der Kreislauf von Schuldigwerden und Versagen durchbrochen und Neues im Geist seiner Liebe gewagt wird. So soll unter den Seinen die neue Normalität aussehen.

Von der Ehre, dem Ansehen, der Würde Gottes werden durch das fünfte Gebot also einige Strahlen auf die Eltern umgeleitet. Zugleich macht das Gebot aber deutlich: Das JA des Kindes zu Vater und Mutter gründet sich nicht darauf, dass oder wie sie für das Kind lebten, es liebten, nährten, kleideten, es in jeder Beziehung umsorgten und ihm lebenslang gute Rat­geber blieben, sondern dass sie Vater und Mutter SIND. Das JA zu deinen Eltern sollst du also nicht davon abhängig machen, ob sie es verdient haben. Es ist nicht abhängig von der Ehr‑Würdigkeit von Vater und Mutter, sondern allein davon, dass sie dein Vater und deine Mutter SIND.

„Ehren“, das heißt: Dankbar zu sein. Nicht alle Menschen sind Eltern, aber alle Menschen sind Kinder und das heißt: Empfänger des Lebens durch andere Menschen. Und solange wir gern leben, so lange haben wir Grund, für das Leben zu danken, und wir sollen das auch dadurch tun, dass wir unseren Eltern, von denen wir es empfangen haben, danken.

„Ehren“, das heißt: Den Hochmut der Jungen gegen die Alten ablegen und bescheiden werden. Am deutlichsten kann man das heute vielleicht beim Umgang mit den modernen Medien wie Handy, Computer oder Internet ablesen. Man ist manchmal schon fast geneigt zu glauben, man müsse sich ein ärztliches Attest beschaffen, um den Nachweis seiner Zurechnungsfähigkeit erbringen zu können, wenn man eingesteht, mit diesen Apparaten seine Probleme zu haben oder, o Schreck, sie vielleicht gar nicht zu besitzen.

„Ehren“, das heißt: Mitreden zu lassen. Den Ton angeben können die Alten irgendwann nicht mehr. Aber leben heißt, sich mitzuteilen und Anteil zu geben. Wer den Alten das verweigert, der behandelt sie wie Tote, obwohl sie noch leben. Wer sie mitreden lässt und ihren Rat wenigstens anhört, der wird um ihre Erfahrungen reicher und schenkt ihnen Lebenssinn.

„Ehren“, das heißt: Dem Schwächeren seine Würde zu lassen. Im Umgang mit den Alten gewinnen leicht unbedachte Gewohnheiten die Oberhand, etwa wenn von „unseren lieben Altchen“ gesprochen wird oder sie mit allerlei anderen Verkleinerungsformen angeredet und damit ins Säuglingsalter zurückversetzt werden. Altern ist an und für sich schon mit vielen Entwürdigungen verbunden, mit vielen entwürdigenden Diensten, die ein alter Mensch benötigt. In der Behandlung der Alten, besonders in der Pflege nicht der Versuchung zur Entwürdigung nachzugeben, das heißt sie zu ehren.

Jeder Jüngere denke daran, dass auch er einmal alt wird, und er tue seinen Eltern, was er sich von seinen Kindern wünschen wird! Besucht sie viel, schreibt ihnen oft, schickt die Enkel und Urenkel zu ihnen, kontrolliert die Verhältnisse in ihrem Altersheim, versorgt sie mit Geld, habt Geduld mit den Eigenheiten des Alters, denkt euch immer neue Freuden für sie aus, zeigt ihnen auf allerlei Weise eure Dankbarkeit und eure Achtung, wie wunderlich und hinfällig sie auch werden mögen!

Manchmal meinen die Jungen, sie könnten am Nullpunkt anfangen und eine neue Welt aus dem Nichts erschaffen. An diesem Scheideweg erinnert Gottes Gebot sie daran, dass sie Glieder in der Kette der Generationen, dass sie Erben sind. Deshalb ist es so wichtig, dass hier nichts von Gehorchen steht. Das Erbe ist ihnen gerade nicht gegeben worden, um sie der Tradition zu unterwerfen, sie an die Meinungen und Sichtweisen der Alten festzubinden. Nein! Die Jungen sollen und dürfen freie Menschen sein, Neues entdecken, Altes wiederentdecken und sogar ihre eigenen Fehler machen.

3. Die Verheißung des Gebotes

„... auf dass du lange lebest“ Warum denn lange? - Nun, keiner stirbt gern. Auch für Christen trifft das in der Regel zu. Nun kann man zwar auf die mir unerklärliche Tatsache hinweisen, dass auch Menschen, die es mit dem fünften Gebot ernst genommen ha­ben, früh gestorben sind, dennoch bleibt die Ankündigung des fünften Gebotes bestehen: Wer Vater und Mutter ehrt, lebt länger. Das steht fest.

Aber welchen höheren Wert hat denn ein längeres Leben gegenüber einem kürzeren? Die Antwort der Bibel lautet: Die uns von Gott anvertraute Lebenszeit kann zu vielerlei Dingen und Aufgaben genutzt werden. Die bedeutendste Aufgabe während unseres, in jedem Fall kurzen Erdenlebens besteht jedoch darin, die rechte Entscheidung für Jesus Christus, unseren einzigen Erlöser und Herrn zu treffen. Und so ist es in jedem Fall eine ver­längerte Gnadenfrist, wenn der Vater im Himmel uns eine längere Zeitspanne lässt, Jesus Christus persönlich kennen, ihn lieben und ihm vertrauen zu lernen.

Manchmal braucht man auch ein längeres Leben, um bestimmte Dinge von einer anderen Warte oder aus einer anderen Lebenserfahrung heraus beurteilen zu können. Denn im Erbe, das wir von unseren Eltern übernommen haben, ist neben vielem, wofür wir danken können, auch die Schuld der Eltern enthalten. Mit den Jahren wird uns immer klarer, dass auch wir unseren Kindern ein Erbe von Schuld hinterlassen werden. Spätestens mit dieser Erkenntnis muss aller Hochmut gegenüber den Alten schwinden. Zusammen mit den Alten auf Vergebung angewiesen zu sein – auf die Vergebung Gottes und auf die Vergebung der eigenen Kinder –, das lässt uns unsere Eltern immer besser verstehen und ihnen immer gerechter werden.

Gott die Ehre zu geben bedeutet, ihn uneingeschränkt Gott sein zu lassen und zu begreifen, dass Gott nicht das tun muss, was wir für gerecht halten, sondern dass wir das als gerecht er­kennen müssen, was Gott tut. Gottes Tun, wenn es denn als solches anerkannt wird, wird nicht diskutiert, es wird angebetet und geehrt. Liebe kann, wie wir wissen, unter Umständen auch in kräftiger und beharrlicher Kritik, ja in der Zurechtweisung dessen bestehen, den man wirklich liebt. Wo man aber Ehre erweist, ist dafür kein Raum mehr. Da schweigt jegliche Kritik.

Jesus will die Schwachen und die Starken, die Kranken und die Gesunden, die Alten und die Jungen zum Leben miteinander und füreinander versöhnen. Und wir, die wir uns von ihm haben rufen lassen und deshalb zu ihm gehören, kehren aus dem Gegeneinander des Hochmuts, der Rücksichtslosigkeit des Egoismus´, des Machtkampfes um und wenden uns einander wieder respektvoll zu. Darauf zielt das schöne, hilfreiche 5. Gebot.

Manfred Herold

Manfred Herold