Das sechste Gebot

„Du sollst nicht töten.“ (2. Mose 20,13)

Gott will das Leben, deshalb schenkt und erhält er Leben. Der Tod gehört nicht zur Schöpfung Gottes. Der Tod ist „der Sünde Lohn“ (Römer 6,23), also die Antwort Gottes auf die Rebellion des Menschen gegen ihn und sein Gebot. Erst seitdem der Mensch Gott den Gehorsam aufgekündigt hat, gibt es den Tod (1. Mose 3,33). Das Leben ist und bleibt Geschenk Gottes, das von jedem Menschen verantwortet werden muss. Im sechsten Gebot tritt Gott als der Herr des Lebens vor uns hin.

Die Bedeutung dieses Gebotes reicht tiefer in unser Leben hinein, als vielen von uns bewusst ist. Das sechste Gebot stellt die Alleinhoheit Gottes über jedes Menschenleben fest. Nur Gott darf über den Anfang, das Werden und über das Ende eines Menschen bestimmen.

1. Gott allein ist Herr des Lebens

Weil jedes Menschenleben ein Geschenk aus der Hand des Schöpfers ist, ist das Gebot „Du sollst nicht töten“ zuerst einmal die Willensbekundung eines liebenden Gottes, der das Leben bejaht und deshalb schützt. Es begrenzt ja nur an einer äußersten Stelle den weiten Raum der Freiheit, die Gott dem Menschen gibt und ist auf diese Weise vor aller Begrenzung und Einschränkung, wie die anderen Gebote auch, eine positive Lebenshilfe.

Über den Beginn und das Ende eines Lebens entscheidet Gott allein. Beides ist sein ausschließliches Majestätsrecht. Und dass Gott einmal sogar alle Gestorbenen in der Auferstehung wieder lebendig macht, ist die Vollendung des Evangeliums vom Leben (Offenbarung 20,12). Deshalb sollst du nicht töten, denn Gott allein ist der Herr des Lebens.

Die Bibel spricht es in 1. Samuel 2,6 klar aus: „Der Herr tötet ...!“ Das eigentlich Bemerkenswerte ist hier jedoch nicht, DASS er es tut, sondern WARUM er es tut: Weil der Tod der deutlichste Hinweis Gottes darauf ist, dass diese Welt nicht heil, gut und schön, sondern durch die Sünde des Menschen verdorben, böse und dem Untergang verfallen ist. Krankheiten, Katastrophen, Leid und Not weisen zeichenhaft auf dieselbe Tatsache hin: „Der Tod ist der Sünde Lohn“ (Römer 6,23). Der Tod ist die überaus ernste Antwort Gottes auf die Sünde der Menschen, nicht unbedingt individuell, aber sehr wohl allgemein. Der Tod ist das große Mahnmal der unantastbaren Heiligkeit Gottes, der den Aufstand des Sünders nicht hinnimmt, sondern niederschlägt.

Darum freundet sich die Bibel auch nirgends mit dem Tod an, wie es andere Religionen und Ideologien tun, die uns glauben machen wollen, der Tod sei ein Freund oder müsse als ein Naturereignis eben hingenommen werden. Der Tod wird in der Bibel unmissverständlich als der „letzte Feind“ (1. Korinther 15,26) und Gottes Gericht beschrieben, obwohl dies nicht ihr letztes Wort zu diesem Thema ist. Das letzte Wort ist die Siegesbotschaft des für uns gekreuzigten und auferstandenen Herrn Jesus Christus. Wer sich in lebendigem Glauben mit dem Auferstandenen verbindet, der empfängt bereits in dieser Zeit ewiges Leben („Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben.“ Johannes 3,36), das kein Tod und kein Sterben mehr auslöschen kann.

Mord

Das sechste Gebot untersagt jedoch nicht das Töten überhaupt! Es lässt sich nicht zur Begründung eines pauschalen Pazifismus heranziehen. Die Bibel ist zu realistisch, als dass sie der Meinung wäre, mit der Abschaffung des Schwertes kehre automatisch der Friede auf Erden ein. Die Zielrichtung des Gebotes kommt in seiner genauen Übersetzung zum Ausdruck: „Du sollst nicht morden!“ Hier geht es um jegliche Art von Mord, die Gott sein alleiniges Verfügungsrecht über alles Leben streitig macht. Nicht eingeschlossen ist in diesem Spezialbegriff der hebräischen Sprache vor allem zweierlei: das Töten durch den Staat und das Töten im Krieg.

So selbstverständlich wie das Gebot klingen mag, ist es leider heute überhaupt nicht, wenn man die Energie würdigt, mit der gewisse Mörder nicht nur im Licht mildernder Umstände dargestellt werden, sondern wie sie geradezu zu Opfern ihrer Verhältnisse erklärt werden, für deren Taten ganz andere Leute als sie selbst verantwortlich zu machen seien. Gottes Gebot lässt solches Ausweichen nicht zu. Falls andere eine Mitschuld an einer tödlichen Kurzschlusshandlung tragen, dann ist solcher Mitschuld ernstlich nachzugehen. Das Gesetz gibt dazu genügend Handhaben. Aber an einem Mord ist sowohl vor Gott als auch vor Menschen in erster Linie der Mörder schuld. Das muss klar bleiben.

Abtreibung

In Deutschland ist die Abtreibung zwar nicht gesetzlich freigegeben, Straftaten gegen das werdende Leben werden aber innerhalb eines gewissen Schwangerschaftszeitraums strafrechtlich nicht mehr verfolgt (daher „Fristenlösung“). So ist das Problem der Abtreibung zu einem Musterfall des christlichen Glaubens dafür geworden, dass das Recht Gottes über dem Recht des Menschen, das Gesetz Gottes über dem Gesetz des Staates steht. „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte 5,29). Aus der staatlichen Erlaubnis zur Tötung ungeborenen Lebens im Mutterleib darf der Christ kein Recht ableiten, dass auch ihm dies gestattet sei. Für Christen behalten Gottes Gebote immer ihre Gültigkeit, gleichgültig, welche Gesetze die Obrigkeit erlässt.

Über schicksalhafte Grenzsituationen kann hier nicht ausführlich gesprochen werden. Aber man löst die Probleme des Lebens gewiss nicht durch Töten, sondern nur durch Umkehr zu Gott und den Gehorsam gegen Gott.

Selbstmord

Die Frage des Selbstmordes bleibt eine notvolle Frage, gerade weil dieser Schritt nur in ganz und gar ausweglos erscheinenden Lebenslagen gegangen wird. Wer Hand an sich selbst legt, der hat zuvor wohl Tiefen des Daseins durchschritten, die gesunde Lebende in der Regel nicht nachvollziehen können. Das gilt wohl besonders für die heute erschreckend ansteigende Zahl jugendlicher Selbstmörder. Der Schritt in den Tod wird nur getan, weil kein Weg mehr durchs Leben zu führen scheint.

Bei aller Behutsamkeit, dieser ernsten Frage gerecht zu werden, kann die Antwort dennoch nur lauten: Gott verwehrt das. Kein Mensch hat das Recht, „seinen Todestag“ selbst zu bestimmen, wie das heute auch genannt wird, um den Mord an sich selbst zu umschreiben. Psalm 73,26 kann gerade Selbstmordgefährdeten eine Einladung zum Vertrauen sein: „Wenn mir auch Leib und Seele verschmachten“, also wenn ich äußerlich und innerlich völlig am Ende bin, „SO bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.“ Gott selbst kann und will diesen Glauben gerade auch in ausweglos erscheinenden Situationen schenken.

Sterbehilfe

Wenn heute von „Sterbehilfe“ gesprochen wird, bleibt häufig offen, ob damit eine Hilfe beim Sterben oder eine Hilfe zum Sterben, also zutreffender eine „Sterbe-Nachhilfe“, gemeint ist. Zur ersten Form der Sterbehilfe sagen wir aus Überzeugung JA, zur zweiten Form, bei der sich ein Mensch an die Stelle Gottes aufschwingt, sagen wir NEIN! „Tötung schwacher Menschen um ihrer für die anderen beschwerlichen Schwäche willen kann nur auf Verkennung des einem jeden Menschen in seiner Form und so auch in seiner Schwachheit von Gott gegebenen Lebens beruhen. Eben was aus dieser Verkennung folgt, kann aber nur Mord sein und auf gar keinen Fall Gehorsam gegen Gottes Gebot.“ (Karl Barth)

Auf der anderen Seite muss man sich heute auch der Frage stellen, ob es geboten ist, ein verlöschendes Leben mit allen Mitteln der modernen Chemie, Pharmazie, Mechanik und Elektronik zu verlängern oder nicht. Hat ein sterbendes Leben nicht dasselbe Recht, sterben zu dürfen, wie ein lebendes Leben das Recht hat, leben zu dürfen?

Es ist ausgeschlossen, auf diese Grenzfragen einfache Antworten zu finden. Sie können nur im jeweiligen Einzelfall in der Gemeinschaft mit Gott und im offenen Austausch mit geistlich reifen Vertrauenspersonen entschieden werden - und ob sie damit auch wirklich beantwortet sind, muss offen bleiben.

Straßenmord

Hier spreche ich vom Tod auf unseren Straßen. Bis auf wenige Ausnahmen geht es dabei nicht um absichtliche Tötung, sondern um das, was der Jurist fahrlässige Tötung nennt. Aber genau diesen Unterschied macht das fünfte Gebot ausdrücklich nicht! Es gibt Länder wie die USA, in denen in allen Kriegen, die diese Nation bis heute geführt hat, insgesamt nicht so viele Menschen ums Leben gekommen sind wie auf den Straßen des Landes.

Es ist hier nicht meine Aufgabe über Ursachen und Abhilfen zu sprechen. Eines aber ist sicher: Ohne eine Veränderung in der inneren Einstellung zum Nächsten im Verkehr bleiben alle Änderungsmaßnahmen nur Kosmetik und werden darum wohl nie viel Erfolg haben.

Niemand kann ernsthaft bestreiten, dass in jedem von uns Autofahrern etwas von einem „Hoppla-jetzt-komm-ich“-Egoisten steckt. Die Frage hier lautet, ob unser Christsein bis in unseren Fahrstil hinein erkennbar wird, d.h. ob wir es lernen, so viel Rücksicht zu nehmen wie möglich, oder ob wir darauf aus sind so viel Durchsetzungsvermögen zu beweisen wie möglich. Ob einer also seinen Nächsten bei Gelb genau so liebt wie sich selbst, - das ist der Knackpunkt aller Entscheidungen. Hier sind wir ebenfalls als Zeugen Jesu gefragt. Solange Autofahrer in ihrem Fahrzeug nur ein technisches Instrument zur grundgesetzlich garantierten Durchsetzung ihrer Selbstverwirklichung sehen, muss man alle Hoffnung auf Besserung fahren lassen.

Die Frage des Krieges gehört nicht ins sechste Gebot. Gottes Gebot bezieht sich auf das dem einzelnen Menschen anzulastende Vergehen gegen das Leben anderer Menschen.

2. Wo Gott alles gilt, gilt der Mensch viel

Noch einmal zurück zu der biblischen Erkenntnis, dass der Tod nicht die natürliche Erfüllung eines biologischen Ablaufs ist, sondern Gottes Gericht über die Sünde des Menschen. Ohne die Sünde gäbe es den Tod nicht. „Wer sündigt, muss sterben.“ (Hesekiel 18,20)

Gott tötet, weil er der Richter der Welt und ihrer Sünde ist. Ausdrücklich deshalb „sollst du nicht töten“, denn in diesem Sinne bist du niemandes Richter, so wenig wie du der Eigentümer des Lebens bist, auch nicht deines eigenen. Wer seine Hände in wahrer Verehrung zu Gott erhebt, der wird seine Hand nicht gegen seinen Nächsten erheben.

Umgekehrt stimmt es aber auch: Wo man seine Hände nicht mehr zu Gott aufhebt, d.h. wo man Gott den Abschied gegeben hat, wo man sich nicht mehr um ihn und sein Wort kümmert, da folgt die „Abschaffung“ des Menschen auf dem Fuß. Es ist einfach nicht wahr, dass es auch ohne Gott eine Humanität gäbe. Nur da, wo Gott alles gilt, gilt der Mensch sehr viel. Wo Gott abgeschafft wird, tritt automatisch der Mensch an seine Stelle, jederzeit auswechselbar, weil reif für den „Schrottplatz“ der Welt. Wo Gott für tot erklärt wird, darf sich der Mensch nicht wundern, wenn es ihm selber ans Leben geht. Die Unverletzlichkeit des Menschen wird dort am meisten respektiert, wo Gott geehrt wird. Nur wer um die Heiligkeit Gottes weiß, kennt den wahren Grund der Unantastbarkeit des Menschenlebens.

Von den Reformatoren haben wir gelernt, dass Gott auf zwei unterschiedliche Weisen seine Herrschaft über diese bestehende Welt ausübt. In seinem „Reich zur Linken“ regiert Gott mit den Mitteln von Gesetz, Ordnung, Obrigkeit und Gewalt, die das Recht schützen und die Welt erhalten sollen (Römer 13,1-7). Im „Reich zur Rechten“, dem Reich Gottes, der Gemeinde, regiert er durch Christus, die Liebe, die Gnade, die Barmherzigkeit, die Vergebung und Versöhnung. Diese neue Welt Gottes hat mit Christus bereits begonnen und ereignet sich inmitten der alten Welt unter neuen Bedingungen. Hier gilt die Bergpredigt und das Gebot der Liebe. Dort gelten Vergeltung und Bestrafung der Bösen. Hier gilt vergeben, dort vergelten, hier nachgeben, dort widerstehen. Die Berufung des Christen ist es, in zwei Welten zugleich zu leben. Das macht die ungeheure Spannung für ihn aus.

Ein Christ ist jemand, der in dieser Welt „sein Kreuz auf sich nimmt“ und unter allen Umständen Christus nachfolgt. Das kann in bestimmten Situationen für ihn bedeuten, bewusst auf jede Art von Gewaltanwendung zu verzichten. Das kann für ihn jedoch auch bedeuten, sich zur Sicherung seines Rechts der obrigkeitlichen Gewalt zu bedienen. Er ringt stets darum, keine Gewalt anzuwenden, weder in Gedanken, noch mit Worten oder gar Taten, sondern sich stattdessen eifrig für Versöhnung einzusetzen (Matthäus 5,9). Glieder der Gemeinde sollten zur Klärung ihrer Streitigkeiten keine weltlichen Gerichte anrufen (1. Korinther 6,1-8), sondern einen Weg aus ihren Problemen heraus zu finden, der ihrer Berufung angemessen ist (Epheser 4,1f).

Im Allgemeinen wird Mord als das schlimmste Verbrechen überhaupt angesehen und zugleich geschieht er am häufigsten. Wie ich zu dieser Aussage komme? Weil Jesus es nicht dabei bewenden ließ, das Gebot auf diejenigen zu beschränken, die anderen die Kehlen durchschneiden oder die Köpfe weg schießen. Er sagte: „Ihr habt gehört, dass es im Gesetz des Mose heißt: 'Du sollst nicht töten! Wer aber einen Mord begeht, muss vor ein Gericht.' Doch ich sage euch: Schon wer auf seinen Bruder zornig ist, den erwartet das Gericht. Wer zu seinem Bruder 'Du Idiot!' sagt, der wird vom Obersten Gericht abgeurteilt werden ....“ (Matthäus 5,21-22) Achten wir darauf: Sogar unser Zorn verletzt bereits das sechste Gebot. Nur indem wir Jesus immer ähnlicher werden, bleiben wir davor bewahrt.

Manfred Herold

Manfred Herold