Das neunte Gebot

Du sollst kein falscher Zeuge sein gegen deinen Nächsten!“ (2. Mose 20,16)

Der Mann auf der Straße akzeptiert heute bereits stillschweigend, dass er belogen wird: von der Werbung, von den Behörden, den Handwerkern, ja sogar hin und wieder von seinen Freunden. Freundliche Ausreden, ernsthaft klingende Beteuerungen, Mitleid erregende Schilderungen usw. sind mittlerweile weithin gesellschaftliche Konventionen der Lüge geworden. Politiker, die heute etwas mit Nachdruck behaupten, müssen, spätestens wenn ihnen die Medien das Gegenteil nachgewiesen haben, „einräumen“, dass es bei der Geschichte noch „andere Aspekte“ gegeben hat. „Ehrenworte“ stellen sich im Nachhinein als Lügenworte heraus. Eine allgemeine Skepsis hat sich breit gemacht. Sagt man mir die Wahrheit oder will man nur mein Geld? Wem kann ich heute noch trauen?

Auf der anderen Seite werden ehr­liche Menschen durch Rufmord-Kampagnen „erledigt“. Ist erst ein Gerücht in die Welt gesetzt, lässt es sich nicht mehr zurücknehmen, selbst nach erfolgter Rehabilitation. - Offiziell werden Falschaussagen immer noch geahndet. Zeugen werden vor Gericht darauf hingewiesen, dass ihre Aussagen wahr sein müs­sen und dass Falschaussagen empfindlich bestraft werden. Aber im Alltag? - Welchen Maßstab gibt uns Gott an dieser Stelle an die Hand?

1. Die eindeutige Stoßrichtung des Gebotes

Der Wortlaut des neunten Gebots bezieht sich im engeren Sinn auf Aussagen vor Gericht. Der Zeuge eines Vergehens ist verpflichtet, vor Gericht wahrheitsgemäß auszusagen (3. Mose 5,1). Tut er das nicht, lädt er Schuld auf sich. Das Gebot sagt also zuerst einmal nichts anderes als: „Du darfst gegen niemanden falsche Anklage erheben, denn die könnte ihm das Leben kosten!“ Deshalb heißt es in Sprüche 14,25: „Ein wahrhaftiger Zeuge ist ein Lebensretter.“

Neben diese Bedeutung tritt aber von Anfang an die Sinnerweiterung der üblen Nachrede. So wird in 2. Mose 23,1 ge­fordert: „Du sollst kein falsches Gerücht verbreiten!“ - „Lügenlippen sind dem HERRN ein Gräuel; wer aber die Wahrheit übt, gefällt ihm wohl.“ (Sprüche 12,22) - Wie das achte Gebot das Eigentum unseres Nächsten si­chert, so soll das neunte Gebot seinen Ruf und Namen schützen.

2. Das klare Verbot des Gebotes

Dieses Gebot hat es vor allem mit der Be­herrschung unseres Redens zu tun. Die Sprachfähigkeit gehört zum Adel des Menschen. Aber wie auf keinem anderen Gebiet tobt sich hier die Sünde zum Schaden der Menschen aus. „Tod und Leben stehen in der Gewalt der Zunge, und wer sie viel gebraucht, wird das, was sie anrichtet, zu schmecken bekommen.“ (Sprüche 18,21) Dass wir uns vor leichtfertigen oder gedankenlosen Worten hüten sollen, macht der ernste Ausspruch unseres Herrn deutlich: „Ich sage euch aber, dass die Menschen Rechenschaft geben müssen am Tage des Gerichts von jedem nichtsnutzigen Wort, das sie geredet haben. Aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verdammt werden“ (Matthäus 12,36‑37). Wie wichtig ist es deshalb für uns zu beten: „HERR, stelle eine Wache an meinen Mund, bewahre die Tür meiner Lippen!“ (Psalm 141,3)

Das neunte Gebot verbietet alle falschen und verlet­zenden Reden über unseren Nächsten und befiehlt uns zugleich die Wahrheit zu sagen. Wahrhaftig­keit ist die genaue Beachtung der Wahrheit in unserer Ver­ständigung. Die Bedeutung dessen macht die Tatsache klar, dass fast alles, was wir wissen, von Ver­ständigung herrührt. Der Wert der Aussagen, die wir von anderen übernehmen, hängt ausschließlich von ihrer Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit ab. Wenn sie falsch sind, sind sie wertlos, irre­führend und böse. Wahrhaftigkeit ist demnach nicht nur EINE Tugend, son­dern sie ist die Wurzel ALLER anderen Tugenden. „Wenn jemand sich im Wort nicht verfehlt, so ist er ein vollkommener Mann..“ (Jakobus 3,2)

In erster Linie wird also die Sünde des Lügens verboten. Bei einer Lüge müssen drei Aspekte zusammen kommen: (1) Vorsätzliches (2) Sprechen der Unwahrheit, (3) in der Absicht, jemanden zu betrügen. Nicht jede Unwahrheit ist eine Lüge. Es mag sein, dass wir falsch informiert oder getäuscht wurden und ernsthaft glaubten, von Tatsachen zu sprechen, also nicht die Absicht hatten, andere irrezuführen. Andererseits kann man die Wahrheit sagen und dabei doch lügen. Beispiel: Wenn ich etwas erzähle, was zwar wahr ist, was ich aber selbst für falsch halte und mit der Absicht zu täuschen ausspreche; oder wenn ich weitertrage, was jemand übertragen, oder im Spaß gesagt hat, und so tue, als habe er es wörtlich und ernst gemeint. Das war der Fall bei denen, die gegen Christus falsches Zeugnis ablegten (Matthäus 26,61). Die übelste Form des Lügens (zwischen Menschen) ist, wenn man böswillig eine Un­wahrheit erfindet zu dem Zweck, den Ruf seines Nächsten zu schädigen; das ist es auch, was beim Wortlaut des neunten Gebots in erster Linie anklingt.

Der entscheidende Charakterzug Satans und das Kennzeichen der Sünde ist die LÜGE. Lüge ist somit die Sünde, die den Men­schen am meisten dem Teufel gleich macht. Der Teufel ist ein Geist, und deshalb entsprechen plumpe fleischliche Sünden nicht seinem Wesen. Seine Sünden sind subtiler, wie z.B. Stolz und Bosheit, Täuschung und Falschheit. „Er ist ein Lügner und der Vater der Lüge" (Johannes 8,44), und je mehr Bosheit in eine Lüge eingeht, desto mehr gleicht man ihm. Lüge ist demnach eine Sünde, die dem Wesen und Charakter Gottes zutiefst wider­spricht, denn der Herr ist ein Gott der Wahrheit (Psalm 31,6). Es geht bei dem neunten Gebot offensicht­lich darum, als Person wahrhaftig zu werden, d.h. Anspruch und Wirklichkeit seines Lebens in das Licht und die Gegenwart Gottes zu stellen. In der Begegnung mit dem, der die Wahrheit ist, entsteht Wahrheit. So ist es wichtig, in der personalen Begegnung mit Jesus ein wahr­haftiger Mensch zu werden, der sich vom „Geist der Wahrheit ... in alle Wahrheit leiten“ lässt (Johannes 16,13). Wer die Wahrheit über sich selbst zu er­kennen bereit ist, der ist schon einen großen Schritt auf dem Weg zur Wahrhaftigkeit weiter. Wer seine eigenen Lebenslügen durchschaut hat, der wird auch sensibler für Heuchelei ‑ laut Jesus eine der am weitesten verbreiteten Sünden der Frommen.

Wir sollten uns ersthaft vornehmen, auf schlechtes Reden über einander Zukunft zu verzichten. Statt Multiplikatoren der Neuigkeiten über andere, sollten wir Blockierer des Geschwätzes werden. Wenn bei dem anderen etwas nicht stimmt, sollten wir es ihm persönlich sagen. Die häufigsten Formen der Verleumdung sind Über­treibungen, bewusstes Weglassen wichtiger Informationen, die den anderen schützen könnten, ungeprüftes Weitererzählen von gehörtem Unerhörtem usw. Wie schnell ist jemand ein Opfer von Verleumdung: Geschickte Bemerkungen in einem Gespräch, beiläufig hingeworfen, können das Bild eines anderen nachhaltig beschädigen. Selektive Wahrnehmung ‑ als vollständige Sichtweise ausgegeben ‑ ist verleumderisch und eine Lüge. - Haben wir acht auf uns selbst!

3. Die Herausforderungen des Gebotes

Die positive Formulierung des neunten Gebotes findet sich in Sacharja 8,16: „Rede einer mit dem andern Wahrheit“. Wenn Wahrheit aber, wie wir sagten, an den Schutz des Nächsten gebunden ist und nicht absolut gefordert wird, werden mögliche Konfliktfälle deutlich.

Einerseits wird uns gesagt, dass wir die Wahr­heit sagen müssen, andererseits gibt es eine Ehrlichkeit und Direkt­heit, die dem andern ernstlich schaden kann. So gehört zum Anspruch der Wahrheit auch das Bedenken der Situation. Wird eine wahrheitsgemäße Auskunft dem andern nützen oder scha­den? Die volle Wahrheit ist nicht immer angebracht. Aber zugleich gilt: „Du musst Gott mehr gehorchen, als den Menschen.“ (Apostelgeschichte 5,29)

Ein weiteres Prinzip, das wir bedenken sollten: Nicht jeder hat das Recht, von uns die Wahrheit gesagt zu bekommen. Wir sind nicht verpflichtet, Dieben zu sagen, wo unsere Wertsachen versteckt sind. Nicht jeder Neugierige hat das Recht, von uns DIE Wahrheit über den und jenen zu hören. Mit der Wahrheit muss man richtig umgehen können, sonst hat man kein Recht, sie zu erfahren. Die Wahrheit müssen wir denen sagen, denen wir sie schuldig sind.

Kann es in bestimmten Situation sogar notwendig werden, nicht die ganze Wahrheit zu sagen? Die Hebammen ließen trotz der Anordnung Pharaos die neugeborenen Jungen am Leben und wichen auf Befragung geschickt, wohl übertreibend, aber wohl kaum lügend, aus (2. Mose 1,15ff.). Deutlicher schon scheint Jeremia in einer verzweifelten Situation auf Drängen des Königs die Unwahrheit zu sagen (Jeremia 38,24ff.). Daraus kann man keine generelle Berechtigung der sog. „Notlüge“ folgern. Im extremen Notfall kann ein Mensch zum Schutz von Leben in eine Situation geraten, die ihm keine andere Wahl lässt. Zusammenfassend kann man wohl sagen, dass Lüge des­halb von Gott verworfen wird, weil sie die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch und zwischen Mensch und Mensch zerstört.

So lässt dich die Ver­pflichtung für unser Reden in zwei Worten zusammen­fassen: „Lasst uns aber die Wahrheit reden in Liebe“ (Epheser 4,15). Wie das achte Gebot das Eigentum unseres Nächsten si­chert, so soll dieses Gebot seinen guten Namen dadurch schützen, dass wir die Wahrheit über ihn in Liebe reden.

Wie wichtig ist es, dass die Erwachsenen jungen Menschen gerade auf diesem Gebiet ein gutes Vorbild sind und ihnen so eine heilige Achtung vor der Wahrheit ans Herz legen. Viele gute Belehrung wird dadurch unwirksam gemacht, dass die Eltern Versprechungen geben, die sie nicht halten, oder Drohungen aussprechen, die sie nicht wahr machen. Es ist ein Zeichen von Weisheit und Reife, nur sehr zurückhaltend umfassende Versprechen abzugeben. Aber wenn sie einmal gegeben wurden, müssen sie um jeden Preis erfüllt werden, so­fern dies uns nicht dazu zwingt, gegen Gott zu sündigen.

Folgende Leitlinien können uns helfen, vor dieser verbreiteten Sünde bewahrt zu bleiben.

  • Lass dich nicht von parteiischer Gesinnung mitreißen. Vorurteile nehmen uns die Bereitschaft, Gutes über Menschen zu hören und anzuerkennen und machen uns stattdessen bereit, das Schlimmste über sie zu glauben. (Jakobus 2,1)

  • Einem Menschen zu schmeicheln ist auch eine Art, dieses Gebot zu verletzen. Wenn wir jemandem nur Komplimente machen, um ihm zu gefallen oder seine Eitelkeit zu befriedigen, versündigen wir uns an ihm. (Jakobus 2,9)

  • Mische dich nicht in die Angelegenheiten anderer Leute, es sei denn, du hast einen Auftrag Gottes hierzu. (1. Petrus 4,15)

  • Denke viel über deine eigene Sündhaftigkeit und Fehler nach. Statt mit dem Splitter im Auge deines Bruders, beschäftige dich mit dem Balken in deinem Auge! (Matthäus 7,5)

  • Meide die Gesellschaft von Klatschtanten und Schwätzern; unnützes Geschwätz ist schädlich für deine Seele. (Sprüche 14,27)

  • Wenn dir wirklich etwas an dem treuen Gott liegt, dann wirst du darauf achten, dass du dich von Lüge und Verleumdung fern hältst. (3.Johannes 4) Du ehrst Gott als den treuen Gott nur dann wirklich, wenn du als Menschen bekannt bist, der wahr und klar ist.

Manfred Herold

Manfred Herold