Das zehnte Gebot

Du sollst nicht begehren das Haus deines Nächsten! Du sollst nicht begehren die Frau deines Nächsten, noch seinen Knecht, noch seine Magd, noch sein Rind, noch seinen Esel, noch irgendetwas, das dein Nächster hat!“ (2. Mose 20,17)

Dieses Gebot, so scheint es mir, klingt am unzeitgemäßesten von allen Geboten, mit Ausnahme vielleicht des ersten. Heute springen uns doch ganz andere Slogans an: „Du darfst!“ - Das weckt „Begehrlichkeit ohne Reue“, „Lust ohne Last“, „Spaß am Leben“ - und klingt auch noch viel besser als: „Du sollst nicht!“ - „Genuss sofort!“ ist gefragt. Permanente Werbung weckt permanent neue Bedürfnisse. Begehrlichkeit ist „in“.

Bei dem 10. Gebot geht es um eine Dimension der Freiheit, die viele noch gar nicht kennen. Es geht hier nicht um unser Tun und Lassen, sondern um unsere Motive. Es geht um die Freiheit des Herzens, mit Freude das Richtige zu tun. Was auf den ersten Blick wie eine Wiederholung des achten Gebots: „Du sollst nicht stehlen!“ aussieht, bezieht sich in Wirklichkeit auf das innere Motiv, auf das Begehren, das zum Raub führt.

Obwohl sich, wie wir gesehen haben, jedes der er­sten neun Gebote bereits auf unser Denken und die verborgen­en Absichten unserer Seele erstreckt, weist uns der Herr im 10. Gebot noch einmal ausdrücklich auf die Gefahr des Begehrens, auf das erste Liebäugeln unseres Herzens mit dem geschützten Hab und Gut unseres Nächsten hin. Daher ist das zehnte Gebot das Band, das allen anderen Stärke verleiht.

1. Die Stoßrichtung des Gebots

Als der erste Mensch sich von Gott als seinem einzigen, voll befriedigendem Gut abwandte, begann seine Seele, sich in das Geschaffene zu verlieben. Daher wohnt im Inneren jedes Menschen dieses starke Verlangen nach Irdischem, Zeitlichem, Sichtbaren. Dieses unmäßige Haben-Wollen von Dingen, die an und für sich harmlos sind, die aber dadurch verwerflich werden, dass der Mensch sie weder als von Gott kommend empfängt noch sie zu sei­ner Ehre gebraucht, beleidigt Gott.

Gott kennt und bejaht unsere Bedürfnisse. Er gewährt uns das Recht auf Eigentum, das ja im 10. Gebot durch das Verbot des Begehrens bestätigt wird. Die Bedeutung von Haus und Grundbesitz bildeten in Israel die Existenzgrundlage der Familie. Da der Begriff „Haus“ im übertragenen Sinn auch „Familie“ bedeutete, kann das zehnte Gebot auch als Verbot verstanden werden, die Fami­lie des Nächsten anzutasten. In diesem Gebot steht in erster Linie der Schutzgedanke im Vordergrund. Es sagt nicht, dass die Frau oder der Sklave Eigentum des Mannes sei oder als „Sache“ verstanden würde. Geschützt wird auch alles, was zum Haus gehört, nämlich der gesamte Vieh‑ und Mobilienbesitz. Es geht im 10. Gebot also um den Schutz von Familie und Eigentum durch eine grundlegende Weichenstellung.

2. Das sündige Begehren

Das zehnte Gebot hat, genau wie Jesus, deutlich im Blick, dass jeder Sünde ein sündiges Begehren vorausgeht (Matthäus 15,19; 5,28). Von Israel wird gesagt: „Sie gierten voller Begierde in der Wüste, versuchten Gott in der Einöde. Da erfüllte er ihre Bitte, aber er sandte Schwindsucht in ihre Seelen. Sie wurden eifersüchtig ...“ (Psalm 106,14). Äußerliche Erfüllung aller Wünsche führt nicht automatisch zu echter Befriedigung!

Es war von Anfang an das falsche Unbedingte-Haben-Wollen, das zur Sünde führte:

  • Von Eva heißt es: „Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre, und dass er eine Lust für die Augen und ein begehrenswerter Baum wäre, weil er weise macht; und sie nahm von seiner Frucht und aß, und sie gab davon auch ihrem Mann, der bei ihr war, und er aß.“ (1. Mose 3,6)

  • Josua 7,21 schildert, wie Achan sich an der Beute Israels vergriff und dadurch einen Bann über sich, seine Familie und das Volk brachte. Die Sünde entwickelte sich auch hier: „Ich sah unter der Beute einen schönen Mantel ... sowie Silber und Gold ... ich bekam Lust danach und nahm es.“

  • Oder David, der die Frau seines Nachbarn haben wollte (2. Samuel 11) - und Ehebruch, Lüge, Raub und Mord waren die Folge.

  • 1. Könige 21 König Ahab wollte unbedingt den Wein­berg seines Nachbarn und seine Frau Isebel ließ den umbringen, um an den Weinberg zu kommen.

  • Jakobus beschreibt den Kreislauf des Be­gehrens: „Ein jeder wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust fortgezogen und gelockt wird. Danach, wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod.“ (Jakobus 1,14‑15)

Die Habgier ist das Be­gehren dessen, was man nicht hat, aber haben möchte. Man liebt etwas (oder jemanden), weil es im Moment für einem wertvoll und deshalb begehrenswert ist. Habgier ist also ein Haben-Wollen und Haben-Müssen. Solches Begehren kann krank und abhängig machen. Wer im Kreislauf des Begehrens gefangen ist, ist unfrei und hat keine hohe Lebens­qualität.

3. Die Ursache des Begehrens

Warum begehren wir? Im tiefsten Grund unseres Herzens sind wir unzufrieden und unbefriedigt. Ein unermesslicher Hunger quält unsere Seele und schreit andauernd: „Ich will mehr!“ Dem weisen König Salomo offenbarte Gott selbst: „Die Augen des Menschen wer­den nicht satt!“(Sprüche 27,20).

Wenn wir genauer hinschauen, merken wir: Wir schätzen das Haben-wollen, das Begehren mehr als das Haben! (Vorfreude ist die schönste Freude!) So wie die Beschleunigung aufregender ist als die Geschwindigkeit, so schätzen wir das Begehren mehr als das Haben. Von manchen wird deshalb die Habgier als eine Tugend angesehen. (Der Kommunismus funktioniert u.a. deshalb nicht, weil jeder selber etwas haben und bekommen will. Wer nur arbeiten muss, um abzuge­ben, ist auf Dauer nicht motiviert.)

Im Grunde glauben wir, unsere Identität hinge von materiellem oder ideellem Haben ab. Das unersättliche Begehren ist die Ursache des Haben-Wollens. Das Trachten des Herzens nach materiellem oder ideellem Gut ist die Ursache von Unbefriedigtsein und Unlust. Materielles Gut, Geld, Reichtum, größeres Auto oder ideelles Gut wie Ehre, Anerkennung, Zustimmung, Gemocht-Werden, Karriere machen aber letztlich nicht glücklich. Die wesentlichen Dinge des Lebens kann man nicht kaufen: Liebe, Friede, Zufriedenheit, Glück. Man kann sie sich nur schenken lassen.

Deshalb finden heute viele unbefriedigte Menschen den Buddhismus so attraktiv. Denn er versucht die - wie er meint - Ursache des Lei­dens, das Begehren, auszulöschen! Dazu bietet er Wege an, die auf den ersten Blick attraktiv erscheinen, letztlich aber nicht zum Ziel führen. Denn es geht gar nicht um das Auslöschen, sondern um die Sättigung elementarer und vitaler Lebensbedürfnisse. Nicht das unpersönliche Nirwana, sondern die persönliche Gemeinschaft mit Gott und auf diesem Wege die totale Sät­tigung unseres inwendigen Hungers, Dursts, Verlangens ist das Ziel des Christenlebens.

4. Der Weg in die Freiheit

Deshalb sagt die Bibel auch: „Habe deine Lust am Herrn, der wird dir ge­ben, was dein Herz wünscht.“ (Psalm 37,4) Gott kennt, bejaht und stillt unsere tiefsten Bedürfnisse. Deshalb ruft Jesus seine Jünger zur Umkehr in die Lebensgemeinschaft mit dem himmlischen Vater, der schon hier auf dieser Erde satt macht.

Die Stillung des Schmerzes unerfüllter Sehnsüchte kann letztlich nur durch den geschehen, der gesagt hat: „Ich bin das Brot des Le­bens: Wer zu mir kommt, wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, wird nimmer mehr dürsten.“ (Johannes 6,35) Jesus macht wirklich satt. Was er zu bieten hat stillt ‑ im Unterschied zu den vergänglichen Angeboten dieser Zeit und Welt ‑ den Hunger und Durst unserer Seele tief und vollständig.

Wie ist das zu verstehen? Wer von Jesus Vergebung seiner Sünden erbeten und empfangen hat und so durch den Glauben ein Gotteskind geworden ist, der weiß sich trotz seines möglichen Versagens von ihm angenommen, geborgen und ge­liebt. Der erfährt in aller Hektik seines Alltags den Frieden Gottes. Der weiß, dass sich sein Wert nicht von seiner eigenen Leistung und seinem frommen Tun, sondern von der Tat Jesu am Kreuz ableitet. So wird er satt.

Der Weg in die Freiheit hat also mehrere Etappen:

  1. Gilt es die eigene Unfähigkeit einzusehen, sein Wünschen und Begehren eindämmen, ignorieren oder mit Zeitlichem stillen zu können.

  2. Dann gilt es, seine Sünde zu bekennen, dass man es z.B. doch immer wieder mit ungeeigneten Mitteln versucht hat.

  3. Jesus um Vergebung und Befreiung zu bitten und es

  4. seinem Heiligen Geist zu gestatten, alle unsere tiefen Wünsche, Bedürfnisse und Begierden zu stillen und darüber hinaus noch Gottes ganzen Willen durch uns zu erfüllen.

Wer das 10. Gebote ehrlich bedenkt, muss seine totale Sündhaftigkeit erkennen und zur Einsicht kommen, wie hilflos er ist. Genau darin liegt die eigentliche Absicht die­ses Gebots, ja aller Gebote. Gott gab sie uns, damit wir die absolute Hoffnungslosigkeit unserer Situation sehen, wenn wir uns selbst überlassen bleiben. Seine Absicht war es, uns zu Chri­stus zu treiben (Galater 3,24) und uns die Größe seiner Gnade zu zeigen, die an Sündern wirksam wird, wenn sie Buße tun und an seinen ge­liebten Sohn glauben, der dem Gesetz in vollkommener Weise ge­horchte und an dem der Vater Wohlgefallen hat.

Manfred Herold


Manfred Herold