Die entscheidenden Stunden

Es ist wichtig, dass wir die Ereignisse der letzten Tage im Leben Jesu in ihrem Zusammenhang betrachten und uns über das Gewicht und die Bedeutung der einzelnen Phasen klar werden. Ich bin davon überzeugt, wenn wir damals in der Haut der Jünger gesteckt hätten, wir würden auch die falschen Stunden für die entscheidenden gehalten haben.

Die heute unter Christen weit verbreitete, einseitig am Erfolg, an Hochstimmung, an Spaß und intellektueller Befriedigung orientierte falsche Sicht der Dinge lässt uns in Zeiten der Prüfung und Anfechtung genauso kraft- und hilflos sein, wie es die Jünger damals waren.

Hier sollten wir dringend Buße tun, d.h. zu einer neuen Einstellung und einem neuen Denken kommen, aus denen dann neues Verhalten und Tun fließt („Richtet euch nicht länger nach ´den Maßstäben` dieser Welt, sondern lernt, in einer neuen Weise zu denken, damit ihr verändert werdet und beurteilen könnt, ob etwas Gottes Wille ist – ob es gut ist, ob Gott Freude daran hat und ob es vollkommen ist.“ - Römer 12,2). - Wenn wir zurück-blenden, dann sehen wir:

1. Stunden grenzenloser Bewunderung

Jesus hatte gerade den Lazarus von den Toten auferweckt und erntete dafür großes Staunen und grenzenlose Bewunderung („Viele Juden, die zu Maria gekommen waren, ´um sie zu trösten,` glaubten an Jesus, als sie das Wunder sahen, das Er an Lazarus tat. Einige aber gingen zu den Pharisäern und berichteten ihnen, was Jesus getan hatte. Die führenden Priester und die Pharisäer beriefen daraufhin eine Sitzung des Hohen Rates ein. »Was sollen wir machen?«, sagten sie. »Dieser Mann tut viele Aufsehen erregende Dinge. Wenn wir Ihn so weitermachen lassen, glauben am Ende alle an Ihn. Dann werden die Römer kommen und weder von unserem Tempel noch von unserer Nation etwas übrig lassen.«“ - Johannes 11,45-48). Die Anerkennung des Wundermannes Jesus hatte ihren Höhepunkt erreicht. Endlich war die von den Jüngern ersehnte Massenbewegung in Gang gekommen.

„Dieser Jesus kann sogar mit den Römern fertig werden!“ war die in der Bevölkerung immer mehr um sich greifende Überzeugung („Als unter der jüdischen Bevölkerung bekannt wurde, dass Jesus in Betanien war, strömten die Leute in Scharen dorthin. Sie kamen nicht nur wegen Jesus, sondern auch, weil sie Lazarus sehen wollten, den Mann, den Jesus von den Toten auferweckt hatte. Da beschlossen die führenden Priester, auch Lazarus zu töten, weil seinetwegen so viele Juden ´nach Betanien` gingen und daraufhin an Jesus glaubten.“ - Johannes 12,9-11). Ich kann mir richtig vorstellen, wie sich die Jünger gedacht haben werden: Jetzt ist die entscheidende Stunde gekommen! Auf der Welle dieser grenzenlosen Bewunderung wird Jesus nun Sein Werk vollenden.

Aber die Stunden der Bewunderung waren und sind nicht die Entscheidungsstunden. Der Glaube, von dem die Schrift in diesem Zusammenhang spricht, war ein Wunderglaube, der davon ausging und damit rechnete, dass Jesus mit jeder problematischen Situation auf DIESELBE WEISE fertig werden würde, wie er es bei Lazarus getan hatte: ein Wunder tun und alles ist in Ordnung.

Als sich Jesus später dann aber widerstandslos abführen und kreuzigen ließ, waren diese „Gläubigen“ enttäuscht, wandten sich ab und ließen Jesus allein. - Jesus will keine Bewunderer, sondern Nachfolger und deren Qualität zeigt sich, wenn sie mit dem Kreuz, dem Verzicht, den Leiden um Jesu willen konfrontiert werden. - Wir finden weiter..

2. Stunden überschäumender Begeisterung

Als sie am nächsten Tag dann von Bethanien loszogen, schwankte die Stimmung der Jünger noch zwischen Bangen und Hoffen: „Würde Jesus jetzt endlich das Reich Gottes aufrichten, wie Er es schon so oft angedeutet hatte?“ Und dann kamen ihnen die „Hosianna“ rufenden Menschenmassen entgegen, schwangen Palmzweige und huldigten Jesus als ihrem König. („Am nächsten Tag hörten die Menschen, die in großer Zahl zum Passafest gekommen waren, dass Jesus auf dem Weg nach Jerusalem war. Mit Palmzweigen in der Hand zogen sie zur Stadt hinaus, um Ihn zu empfangen. »Gepriesen sei Gott!«, riefen sie. »›Gesegnet sei Er, der im Namen des Herrn kommt‹, der König von Israel!« Jesus ritt auf einem jungen Esel, den Er hatte bekommen können. In der Schrift heißt es: »Du brauchst dich nicht zu fürchten, Volk von Zion! Dein König kommt, Er reitet auf einem Eselfohlen.«“ - Johannes 12,12-15). Die Begeisterung griff immer weiter um sich, die Massen jubelten Jesus zu, endlich bekannte sich das Volk öffentlich zu Ihm.

Und wieder wuchs die Erwartung der Jünger noch mehr: „Jetzt fällt die Entscheidung! Jetzt sind wir am Ziel!“ Und wie sah Jesus das alles? Er weinte („Als Jesus sich nun der Stadt näherte und sie vor Sich liegen sah, weinte Er über sie.“ - Lukas 19,41). Ihm reichte es nicht, dass die Menschen Ihm begeistert zujubelten. Er wollte und will mehr und anderes als überschäumende Begeisterung. Er wusste, die Entscheidung fällt weder für Ihn, noch für Seine Jünger, noch für uns in Stunden der Begeisterung und des Jubels, sondern am Kreuz.

Der Jubel rühmt die Herrlichkeit Gottes, aber das Kreuz macht die Herrlichkeit erlebbar. So schön dieser Tag des Einzugs in Jerusalem war, es war nicht der Tag der Entscheidung. Die Jünger mochten das geglaubt haben, aber es war falsch. Auch für uns ist es eine Sache, sonntags schöne, gesegnete, gemütvolle Stunden der Gemeinschaft mit anderen jubelnden Christen zu erleben, entscheidend ist aber, wie wir in der Woche auf das uns begegnende Kreuz reagieren. Wie wir angesichts von Widerspruch, Verachtung und Mobbing reagieren. - Sodann folgen...

3. Stunden eindringlicher Belehrung

Jesus wusste, dass Seine Jünger allein mit ihrer Begeisterung die vor ihnen liegenden Tage nicht durchstehen konnten. Deshalb unterwies Er sie noch einmal eindringlich über die Zusammenhänge aus Gottes Blickwinkel, zeigte ihnen, was Er für wichtig hielt („Jesus gab ihnen zur Antwort: »Die Zeit ist gekommen, wo der Menschensohn in Seiner Herrlichkeit offenbart wird. Ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es ein einzelnes Korn. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht. Wem sein eigenes Leben über alles geht, der verliert es. Wer aber in dieser Welt sein Leben loslässt, der wird es für das ewige Leben in Sicherheit bringen. Wenn jemand Mir dienen will, muss er Mir nachfolgen. Und da, wo Ich bin, wird auch Mein Diener sein. Wer Mir dient, den wird der Vater ehren. Mein Herz ist jetzt voll Angst und Unruhe. Soll Ich sagen: Vater, rette Mich vor dem, was auf Mich zukommt? Nein, denn jetzt ist die Zeit da; jetzt geschieht das, wofür Ich gekommen bin. Vater, offenbare die Herrlichkeit Deines Namens!« Da sprach eine Stimme aus dem Himmel: »Ich habe es getan und werde es auch jetzt wieder tun.«“ - Johannes 12,23-28).

Nicht auf dem Weg der Bewunderung und Begeisterung, ja noch nicht einmal durch die eindringliche Belehrung unseres Meisters selbst, sondern allein durch die Bereitschaft, allem Eigen abzusterben, entsteht Frucht für die Ewigkeit. Allein in völliger Bindung an den Vater wird echte Freiheit gefunden. Allein durch Leiden geht es zur Herrlichkeit. Das galt für Jesus und Seine Jünger damals, es gilt unverändert für uns heute und darf auf keinen Fall mit einer falsch verstandenen Begeisterung überspielt werden. Nachfolge steht noch immer unter dem Vorzeichen des Kreuzes und meinen wir ja nicht, das habe sich nach Pfingsten geändert!

Und wieder sehen wir deutlich: Noch nicht einmal diese Stunden eindringlicher, vollmächtiger, göttlicher Belehrung waren die Stunden der Entscheidung, sondern als Jesus gefragt wurde, ob Er Sein Leben für Seine Lehre einzusetzen bereit wäre.

Würde Er tun, was Er Seine Jünger gelehrt hatte? Würde Er sich als das Weizenkorn Gottes in die Erde legen lassen, darauf vertrauend, dass allein so Frucht für den Vater erwachsen würde? Jesus wollte damals und will Seine Jünger heute durch Sein Wort auf diese Entscheidungsstunden vorbereiten, dass wir nicht ebenso, wie damals Seine Jünger, im entscheidenden Moment versagen. - Dann kamen...

4. Stunden schmerzlicher Bewährung

Wir haben es heute leicht, zurückblickend alles klar und deutlich vor uns zu sehen. Aber ist unser Wissen um den Weg Jesu eine unser Leben heute bestimmende Macht? - Überleg´ einmal! Oder verbleiben wir, weil es angenehmer und leichter ist, den Irrtümern der Jünger verhaftet? Ich will es deshalb noch einmal zusammenfassen:

Nicht die Stunden grenzenloser Bewunderung durch die Massen, wenn wir so etwas je erreichen könnten, sind die entscheidenden, sondern die der höhnischen Verachtung, wenn wir dabei sind, Gottes Willen zu tun. Nicht die Stunden gemeinsamen Jubels, sondern die Augenblicke einsamen Sterbens sind die entscheidenden unseres Lebens.

Die Bewährung unseres Glaubens haben wir wie Jesus wohl weniger in unseren strahlendsten, sondern viel häufiger in unseren dunkelsten Stunden zu bestehen; weniger wenn wir bejubelt, als wenn wir verhöhnt werden; weniger wenn wir gefeiert, als wenn wir verraten werden; weniger wenn sich viele um uns scharen, als wenn wir allein gelassen werden; weniger wenn wir ungebunden, als wenn wir gefangen sind; weniger wenn wir uns freuen, als wenn wir trauern. Das sind die Stunden der Bewährung.

Durch das gemeinsame Lob, die Freude am Herrn, den Jubel über Gott, das gute Gelingen, das Gott schenkt, die Belehrung durch Gottes Wort sollen wir uns vorbereiten und stark machen lassen, damit wir „..am bösen Tage zu widerstehen vermögen und nachdem wir alles wohl ausgerichtet haben, das Feld behalten und alles wohl ausrichten“ können. (Epheser 6,13)

Wenn du gerade in einer leidvollen Situation steckst, ein Kreuz zu tragen hast, das dich an die Grenzen deiner Möglichkeiten führt, so wisse, dass Jesus jetzt gerade dir nahe ist und gerade dir die volle Aufmerksamkeit Seiner Liebe zuwendet. Du sollst erfahren, was nur Menschen erfahren können, die in der Nachfolge Seines Kreuzes stehen: Nämlich dass die Kraft Seiner Auferstehung, welche dir in deiner Schwachheit zufließt, neuen Glaubensmut hervorbringt.

Die Tatsache, dass Leidens- und Kreuzesstunden Entscheidungsstunden sind, braucht dich nicht ängstlich und mutlos zu machen, sondern kann dich im Vertrauen auf den Herrn Jesus Christus stärken, der gerade den Niedergedrückten und Verzagten, denen die zerbrochenen Herzens sind, in einer besonderen Weise mit Seiner Hilfe nahe zu sein versprochen hat („Ich will aber den ansehen, der demütig und zerbrochenen Geistes ist und der zittert vor meinem Wort.“ - Jesaja 66,2) – Amen!

Manfred Herold


Manfred Herold