Die soziale Verantwortung des Christen

Es ist heute für jüngere Christen schwer nachvollziehbar, dass es vor noch nicht allzu langer Zeit in der Gemeinde Jesu Christi starke Meinungsverschiedenheiten über das Verhältnis von Verkündigung des Evangeliums und sozialer Verantwortung gab. („Sozial“ heißt, „die Gesellschaft betreffend“.) Aber noch heute trifft man Christen, die der Meinung sind, für soziale Fragen sei ausschließlich der Staat, die Kommune, das Sozialamt und nicht die Gemeinde Jesu zuständig. Die wiederum solle sich aus der Politik herauszuhalten und sich allein um die Verkündigung des Evangeliums kümmern.

So gibt es heute viele Christen, die so sehr vom Bemühen um kompromisslose Bibeltreue, von Gemeindewachstumsfragen, von charismatischer Strukturierung der Gemeinde eingenommen sind, dass sie die Herausforderungen der heutigen Zeit einfach nicht wahrnehmen. Andere wiederum sind so auf ihre Umwelt und deren Probleme fixiert, dass sie die Offenbarung Gottes darüber entweder überhaupt nicht beachten oder aber sie sich so zurechtbiegen, dass sie ihrer Vorstellung von Relevanz gerecht wird.

Wir wollen heute fragen, was die Bibel über das Thema „Die soziale Verantwortung des Christen“ sagt und wie wir dem in unserem persönlichen Leben und in unserer Gemeinde größere Geltung verschaffen können.

1. Das soziale Verhalten Gottes

Die Bibel lehrt, dass Gott sich um die gesamte Menschheit und um alle Aspekte des menschlichen Lebens kümmert.

Gott ist Schöpfer und Erhalter aller Dinge (1. Mose 1,31). Gott ist in unserer Vorstellung oft deshalb viel zu klein, weil wir Ihn, häufig unbewusst, einseitig auf den religiösen Bereich beschränken; so, als ob Gott sich nur um religiöse Dinge kümmern würde (1. Timotheus 4,4). Wir jedoch glauben und bekennen: „Er ist für alles zuständig und kümmert sich auch um alles!“ - Die Bedeutung und der Wert z.B. unserer Gottesdienste liegen darin, dass wir in ihnen unsere Liebe und Hingabe zu Gott in einer öffentlichen Versammlung zum Ausdruck bringen. Wenn in diesen Gottesdiensten jedoch andauernd Dinge gesungen oder gesagt werden, wie z.B. „Gott ist für alles zuständig und kümmert sich auch um alles!“, wir aber in unserem Alltag nicht die praktischen Konsequenzen daraus ziehen, dann sind solche Gottesdienste nicht nur wertlos und ungültig, sondern eine widerwärtige Heuchelei.

Gott ist gerecht (Psalm 146,5-9). Er will Recht und Gerechtigkeit für alle Menschen. Gott hasst Ungerechtigkeit und Unterdrückung überall, wo sie anzutreffen sind und Er erwartet dieselbe Haltung von den Seinen (siehe z.B. Amos, Nahum). Alle Gerechtigkeit, die in dieser gefallenen Welt noch zu finden ist, ist eine Auswirkung Seiner Gnade (Römer 2,14-15). Die Fürsorgebereitschaft und das Interesse des lebendigen Gottes sind allumfassend. Und obwohl Satan, nachdem er sich die Herrschaft unrechtmäßig angeeignet hat, der „Beherrscher dieser Welt“ (Johannes 14,30; 2. Korinther 4,4) genannt wird, bleibt Gott dennoch der oberste Herr über alles, was Er geschaffen hat.

Gott hat sich uns in Jesus Christus vorgestellt und verkündigte dabei nicht nur das Evangelium vom Reich Gottes, sondern demonstrierte auch Seinen Anbruch, indem Er Kranke heilte, Hungernde speiste, Sündern vergab, Ausgestoßene als Freunde behandelte und Tote auferweckte (Markus 10,45). Er trennte nicht die geistlichen Anliegen von den leiblichen, nicht die himmlischen von den irdischen, nicht die zeitlichen von den ewigen, nicht die religiösen von den sozialen. Und Seinen Nachfolgern gab er die Weisung: „Gleichwie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch!“ (Johannes 20,21)

Deshalb ist es für mich kaum verständlich, wie es dahin kommen konnte, dass so viele, sich „wiedergeboren“ nennende Christen, selbstbezogen, auf die Errettung ihrer eigenen Seele konzentriert dahinleben können, deren Orientierung am Jenseits mit Desinteresse oder gar geheimer Billigung einer Gesellschaftsordnung gepaart ist, in der soziale Ungerechtigkeit an der Tagesordnung ist.

Diese uns heute kaum verständliche Zurückhaltung mancher evangelikaler Kreise hinsichtlich des sozialen Engagements ist auf eine Fehlentwicklung am Anfang unseren Jahrhunderts zurückzuführen, das sog. „Soziale Evangelium“. Hier war die Bedeutung der persönlichen Gottesbeziehung zugunsten zu verändernder Gesellschaftsordnungen in den Hintergrund gedrängt worden. Ich bin der Meinung, dass das „soziale Evangelium“ aufgrund einer schlechten Theologie gescheitert ist. Das Traurige war nur, dass diejenigen, welche die richtige Theologie hatten, sie nicht auf soziale Belange angewandt haben. Heute sind wir der Überzeugung, dass Gott uns in Seiner Welt sowohl evangelistische als auch soziale Aufgaben übertragen hat.

Gottes Vorbild ruft uns also zu einer Änderung unseres Verhaltens auf. Wir leben immer noch auf Gottes Erde, die Ihm soviel bedeutet, dass Er dafür Fleisch geworden und am Kreuz gestorben ist. Deshalb müsste es für uns eine selbstverständliche Pflicht sein, uns gegen Unterdrückung jeglicher Art für Gottes Gerechtigkeit einzusetzen, gegen Lug und Trug für Gottes Wahrheit, gegen Machtmissbrauch für den Willen, zu dienen, gegen Egoismus für Liebe, gegen zerstörerische Zwietracht für Zusammenarbeit, und schließlich gegen Streit und Feindseligkeit für Versöhnung. Lasst uns damit in der vor uns liegenden Woche BEI UNS SELBST anfangen.

2. Der soziale Aspekt der Erlösung Jesu Christi

Der Mensch, nach dem Bilde Gottes geschaffen, ist zwar durch den Sündenfall in seiner Gottesebenbildlichkeit entstellt, aber nicht völlig zerstört worden (Jakobus 3,9). Vor allem ist er aber durch die Erlösung Jesu Christi Gott teuer erkauft worden. Das macht für einen Christen den eigentlichen Wert eines jeden Menschen aus. Je höher man nun den Wert des Menschen einschätzt, desto stärker wächst das Bedürfnis, ihm zu dienen. Leider stellen weltliche Humanisten und Philanthropen viele Christen in den Schatten, wo es doch von den Voraussetzungen her umgekehrt sein könnte und sollte.

Der Mensch ist nun aber weder nur SEELE, sodass wir uns nur um sein „Seelenheil“ zu kümmern hätten, noch ist er allein KÖRPER, sodass wir nur für seine Nahrung, Kleidung, Gesundheit und Obdach zu sorgen hätten, noch ist er allein ein SOZIALES WESEN, sodass es ausreichen würde, sich mit seinen Beziehungsproblemen zu beschäftigen. Alle 3 Aspekte gehören beim Menschen zusammen und sind in der Erlösung Gottes mitbedacht worden. Deshalb kann nichts unsere unmenschliche Welt menschlicher machen als das Evangelium.

Das neutestamentliche „Heil“ (Lukas 19,9; Apostelgeschichte 4,12) bedeutet, persönliche Befreiung von der Sünde und ihren Folgen anbruchshaft schon hier und heute zu erfahren. Diese Freiheit bringt allerdings viele heilsame Folgen hinsichtlich unserer Beziehungen, Gesundheit und der sozialen Verantwortung mit sich. Das Evangelium ist die Quelle, aus der sowohl der Impuls zur Evangelisation als auch der Impuls zur sozialen Verantwortung entspringt.

Wir dürfen auf keinen Fall den GLAUBEN von der LIEBE trennen. Genau so stark, wie wir aufgrund des Zeugnisses der Heiligen Schrift betonen, dass der Mensch nicht durch gute Werke, sondern ALLEIN durch die im GLAUBEN ergriffene GNADE Gottes gerettet wird, genau so stark müssen wir darauf bestehen, dass dieser Glaube seine Lebendigkeit und Echtheit darin erweist, dass er gute Werke der LIEBE hervorbringt. Tut er das nicht, fehlt die konkret erfahrbare Liebe, dann ist der Glaube unecht, ja tot (Jakobus 2,17). Die biblische Reihenfolge lautet: GLAUBE, LIEBE, DIENST. Echter Glaube bringt Liebe hervor und wahre Liebe erweist sich im Dienst am Nächsten. Rettender Glaube und dienende Liebe gehören unauflöslich zusammen.

In diesem Zusammenhang müssen wir uns auch die Verhältnisse in unserer „Überfluss-Mangel-Gesellschaft“ klarmachen: Die Menschheit, repräsentiert durch zehn Personen, sitzen an einem Tisch. Von den Zehn bekommen drei die größten Portionen und fast alles an Fleisch, Fisch, Milch und Eiern. Weil sie gar nicht alles essen können, landen die Reste im Abfalleimer. Zwei andere von den Zehn werden ausreichend ernährt. Drei bekommen mengenmäßig genug an Kalorien, aber zu wenig lebenswichtiges Eiweiß. Zwei hungern und sterben, hauptsächlich an Infektionskrankheiten, da zu deren Abwehr eine hinreichende Ernährung erforderlich wäre.

Angesichts dieser Zustände ist es nötig, dass wir niemals die verführerische Gefahr des Besitzes verharmlosen (1. Timotheus 6,9-10; Jakobus 4,1-2). Habgier ist heute vielleicht die schwerwiegendste Sünde im Westen und Norden unserer Erde, und keine habgierige Person wird das Reich Gottes erben (1. Korinther 6,9-10; Epheser 5,5). Die Warnungen gegen alle Formen der Habgier in der Schrift sind sehr scharf. Immer wieder kommen wir zu der grundlegenden Frage zurück: Wer oder was nimmt den ersten Platz in unserem Leben ein? Nur wenn die Herrschaft Christi eindeutig anerkannt wird, - und unsere Einstellung zu unserem Besitz wird das deutlicher erweisen als alles andere, - sind wir Seine wahren Jünger. Obwohl wir uns auch vor Pharisäertum oder einem Rückfall ins Gesetz hüten müssen, verlangt Gott in der Frage des Lebensstils einen biblischen Radikalismus von uns, der sich strikt weigert, sich dieser Welt anzupassen. Deshalb sollten wir uns vom Evangelium ermutigen und ermahnen lassen, uns da wo wir können, für soziale Verbesserungen einzusetzen. Das Evangelium wird uns ein neues soziales Verantwortungsbewusstsein vermitteln.

3. Die soziale Herausforderung der Gemeinde Jesu Christi

Manche Christen sehen soziales Handeln so stark mit politischem Handeln verknüpft, dass sie deshalb Zurückhaltung üben. Sie sind der Überzeugung: „Die Kirche soll sich aus der Politik heraushalten!“ und engagieren sich aus diesem Grunde nicht sozial. - Hier müssen wir uns wieder an unseren Auftrag erinnern. Wohl wurde er uns in erster Linie nicht dazu gegeben, unsere Gesellschaft, unseren Staat oder unsere Stadt zu reformieren, sondern damit wir offene Augen für unseren Nächsten, mit dem uns Gott zusammenführt, bekommen. DEN Arbeitslosen, DIE Wohnungslose, den Behinderten, die alte Person, den Ausländer, die Abhängige, den Obdachlosen, die Asylbewerberin will Jesus durch uns mit Seiner Liebe erreichen.

Hierbei können soziale Aktivitäten sowohl eine Brücke zur Evangelisation, als auch eine Folge aus der Evangelisation sein oder werden. Wir haben es jedoch nicht von „Missionserfolgen“ abhängig zu machen, ob wir jemandem helfen oder nicht (Galater 6,10). Wenn wir das nun aber konsequent tun, dann kann es dieser Dienst unter Umständen mit sich bringen, dass wir uns auch politisch für die Betreffenden einsetzen müssen. Die Verkündigung des Evangeliums und der fürsorgliche Dienst am Nächsten sind untrennbare Bestandteile des einen göttlichen Missionsauftrages.

Eine weitere häufig zu hörende Frage ist die: „Was kann ich als Einzelner schon ändern? Mein Verhalten macht angesichts des Hungers in der Welt auch nichts aus!“ Argumentieren wir so, wenn es um die Einladung zu Jesus geht? NEIN! Niemand von uns hat den Auftrag ALLEN zu helfen, aber wir alle haben die Möglichkeiten vielen EINZELNEN zu helfen! Jeder wird einmal Rechenschaft darüber geben müssen, was er tun konnte und getan hat. Du bist nicht für das verantwortlich, was du nicht tun kannst, wohl aber für das, was in deiner Macht steht. - Welches Beispiel gibst du anderen in deiner Umgebung? Unterschätzen wir solche Wirkungen nicht! Jeder von uns ist für andere ein „Vorbild“!

Für einen Christen gibt es nur 2 mögliche Einstellungen der Welt gegenüber: Er kann sich in ihr für seinen Nächsten einsetzen oder sich aus ihr zurückziehen! Da Gott letzteres bis auf den heutigen Tag nicht getan hat, haben Christen dazu m.E. auch kein Recht. Lange galt soziales Engagement angesichts der baldigen Wiederkunft Jesu im großen und ganzen als pure Zeit- und Kraftverschwendung. Wenn das Schiff bereits sinkt, wozu dann noch neue Gardinen aufhängen oder die Möbel umstellen? Das einzige, was zählte, war die Rettung der Opfer. So haben sich manche Christen eine unbiblische Theologie zusammengebastelt, nur um ihr schlechtes Gewissen zu beschwichtigen.

Konkrete Schritte: Sich informieren; Unwissenden helfen; sich unter der Leitung des Heiligen Geistes einmischen; Leserbriefe schreiben; auf soziale Ungerechtigkeiten aufmerksam machen; verantwortungsbewusst mit Wasser, Luft, Natur und Nahrungsmitteln umgehen; Besuche mit offenen Augen für praktische Hilfen machen; Organisierung praktischer Hilfe; von solchen Hilfsmöglichkeiten berichten und sie in Anspruch nehmen; andere ermutigen mitzumachen; Essensangebote; unser finanzieller Einsatz sollte stärker soziale Herausforderungen umfassen.

Kein einzelner Christ kann oder sollte versuchen, sich im Alleingang in all diesen Bereichen der Missionsarbeit zu betätigen. Aber als Ortsgemeinde haben wir durch die Entdeckung und den Einsatz der verschiedenen Begabungen die Möglichkeit, sowohl den evangelistischen, als auch den damit verbundenen sozialen Herausforderungen unserer Tage besser zu begegnen.

Ein Jude kommt zum Rabbi. „Rebbe, es ist entsetzlich. Gehst du zu einem Armen - er ist freundlich und hilft dir, wenn er kann. Gehst du zu einem Reichen - er sieht dich nicht einmal. Was ist das nur mit dem Geld?“ Der Rabbi antwortet: „Tritt ans Fenster! Was siehst du?“ - „Ich sehe eine Frau mit einem Kind an der Hand. Ich sehe einen Wagen. Ich sehe..“ - „Gut“, sagt der Rabbi, „und jetzt stell' dich hier vor den Spiegel! Was siehst du jetzt?“ -“Nu, Rebbe, was werd' ich sehn? Mich selber natürlich!“ - Darauf der Rabbi: „Siehst du, so ist es. Das Fenster ist aus Glas und der Spiegel ist aus Glas. Kaum aber legst du ein bisschen Silber hinter die Oberfläche, - schon siehst du nur noch dich selber.“

Ich wünsche es uns allen, dass wir nicht nur uns selbst sehen, sondern auch unsere hilfsbedürftigen Mitmenschen und ihnen, so wie es uns möglich ist, im Namen Jesu und als Zeichen seiner Liebe wohltun.



Manfred Herold

Manfred Herold