Einheit oder Wahrheit?

Unsere Zeit strebt nach Einheit. In allen Bereichen stehen große Zusammenschlüsse an und man wertet sie durchweg positiv. Die Hoffnung ist, dadurch Spannungen und Probleme zu überwinden. Worte wie Internationalisierung oder Globalisierung prägen die Diskussion.

Auch die Zersplitterung der Christenheit stellt ein großes Problem dar. Es wird in diesem Zusammenhang immer häufiger vom „Skandal der Trennung“ gesprochen. Die Zersplitterung in verschiedene Konfessionen sei Sünde, wird behauptet. Es gibt schon eine ganze Reihe protestantischer Theologen, welche die Reformation am liebsten rückgängig machen würden. So entschuldigte sich am 17.12.1994 der damalige EKD Ratsvorsitzende Bischof Engelhardt beim Papst im Namen der deutschen Protestanten für die Verurteilungen der Katholischen Kirche und Lehre durch die Reformation.

Da Jesus in Johannes 17 darüber hinaus so ernst für die Einheit der Seinen gebetet hat, leiten viele Christen daraus ab, dass ihm die Einheit der Seinen wichtiger sei als alles andere. Ist diese Überzeugung richtig? - Ich möchte Jesus selbst zu Wort kommen lassen und seine Worte in Johannes 17 und da vor allem das Verhältnis von „Einheit“ und „Wahrheit“ untersuchen. Ich stelle dabei fest:

1. Jesus betete für die Einheit seiner echten Nachfolger.

Johannes 17,6: „Ich habe deinen Namen den Menschen offenbar gemacht, die du mir aus der Welt gegeben hast; sie waren dein, und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt.“

Seine Jünger charakterisierte er hier als solche, denen er den Vater geoffenbart hatte, indem sie in ihm den Weg zum Vater erkannten und die seinem Wort als dem Wort Gottes gehorsam wurden. Jesus betete hier also ausdrücklich für solche, die seinem Wort gehorchen, d.h. die sich nicht nur in theologischen Grundsatzpapieren, sondern in ihrem persönlichen und gemeindlichen Alltag zu seinem lebendigen, irrtumslosen und autoritativen Wort bekennen. Das ist geradezu ein Charakteristikum eines echten Jüngers Jesu. - Charakterisiert der Gehorsam Gottes Wort gegenüber dein Leben?

Deshalb ist dieses Gebet gewiss kein Gebet für eine „weltweite Christenheit“, die wohl zum größten Teil aus Namens- oder Traditionschristen besteht, die Gottes Wort oft gar nicht wirklich kennen, geschweige denn ihm gehorchen. Es ist kein Gebet für eine sichtbare, organisierte Einheit der Gemeinde, unabhängig von ihrer jeweiligen Überzeugung und Lehre. Was wir auch immer über die Katholische Kirche sagen könnten, Tatsache ist, dass für sie die Bibel NICHT alleiniger Maßstab für Lehre und Leben ist, denn in ihr hat die kirchliche Tradition denselben Stellenwert. Dies stimmt nicht mit dem geoffenbarten Wort Gottes überein.

Jesu Gebet wurde am ersten Pfingstfest erhört, als der Heilige Geist alle an Christus Glaubenden in dem einen Leib Christi vereinte. Und dieses Gebet wird auch weiterhin immer dann erhört, wenn neuen Glaubenden die Gabe des Heiligen Geistes geschenkt wird und sie durch diesen Geist in denselben Leib hinein getauft werden (1. Korinther 12,13). Dieses Gebet gilt über alle Konfessions- und Ländergrenzen, aber alle Grenzen der Rassen, Kulturen und Geschlechter hinweg allen durch den Geist wiedergeborenen Menschen, die sich zu wahren Gehorsam dem Worte Gottes haben befreien lassen (Lukas 11,28).

Die Sehnsucht heute richtet sich auf „Einheit“. Ich sehe darin jedoch sehr oft den typisch menschlichen Wunsch nach beeindruckender Größe, den Wunsch, etwas Gewaltiges zu Stande zu bringen, die Überzeugung, dass „die Menschheit“ viel mehr schaffen kann, als sie bisher gezeigt hat. Dass, wenn die Welteinheit von uns erst einmal wirklich geschafft wäre, Krieg, Hunger und Ungerechtigkeit abgeschafft und besiegt werden könnten.

Es ist für mich der typische Herzenswunsch des autonomen Sünders: „Wohlan, lasst uns eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reicht, dass wir uns einen Namen machen, damit wir ja nicht über die ganze Erde zerstreut werden!“ (1. Mose 11,4) Sie wollten es damals mit Gott aufnehmen und dieser Wunsch ist auch heute noch der Hauptantrieb des Menschen. Die ganze demokratisch, humanistische Grundeinstellung der Verantwortlichen heute spricht eine klare Sprache. Der Mensch will selbst wieder reparieren, was durch die Sünde zerbrochen ist. Und er meint, dies auch zu können. Er braucht Jesus dazu nicht. Er kümmert sich nicht um Gottes Diagnose, sondern nur um sein eigenes Denken und Wünschen. Das ist eine sehr gefährliche Einstellung. - Jesus betete für die Einheit seiner echten Nachfolger.

2. Jesus betete für die Heiligkeit seiner Gemeinde.

Johannes 17,15-17a: „Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt nimmst, sondern dass du sie bewahrst vor dem Bösen. Sie sind nicht von der Welt, gleich wie auch ich nicht von der Welt bin. Heilige sie in deiner Wahrheit!“

Echte Jünger sind nach dem Willen Jesu „in der Welt“ aber „nicht von dieser Welt“; d.h. wir sollen in unseren ganz normalen Alltag, in dem wir mit vielen anderen Nichtchristen zusammentreffen, leben, arbeiten, spielen usw. die Andersartigkeit Jesu hinein tragen. Nicht vor uns hertragen, nicht lauthals ausposaunen, sondern in unserer Höflichkeit, unserer Geduld, unserer Aufmerksamkeit, unserer Sensibilität, durch ein rechtes Wort zur rechten Zeit, durch unsere Wahrhaftigkeit, Authentizität und unsere Liebe und nicht zuletzt durch unsere Freude an Jesus, Seine Andersartigkeit zum Ausdruck bringen.

Die Gemeinde muss in der Welt sein, wie ein Schiff im Meer sein muss, weil sie eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hat. Aber wenn das Meer in das Schiff eindringt, ist das Schiff in Gefahr. Das Schiff kann nur dann seine Aufgabe im Meer erfüllen, wenn das Meer draußen bleibt. Genau so gehört die Gemeinde in die Welt; wenn jedoch die Welt in die Gemeinde eindringt, dann kann die Gemeinde bald ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen.

Ich bin davon überzeugt, dass die Liebe innerhalb einer Gemeinde die Welt anzieht und dass die Heiligkeit innerhalb einer Gemeinde die Welt verurteilt. Aber wir sind von Jesus zu beidem berufen.

Von der frühen christlichen Gemeinde heißt es: Apostelgeschichte 5,11+13! Ich habe den starken Eindruck, dass Nichtchristen heute in vielen Gemeinde zwar etwas von der Liebe, dem Wohlwollen und dem Verständnis Jesu finden, aber wie steht es um seine Verpflichtung zur Heiligkeit, zur Gerechtigkeit und zur Wahrheit? Das ist wohl eher selten anzutreffen. Wir jedoch sind zu beidem berufen.

3. Jesus betete für die Wahrheit als Grundlage der Einheit.

Johannes 17,17-21: „Heilige sie in deiner Wahrheit! Dein Wort ist Wahrheit. Gleich wie du mich in die Welt gesandt hast, so sende auch ich sie in die Welt. Und ich heilige mich selbst für sie, damit auch sie geheiligt seien in Wahrheit. Ich bitte aber nicht für diese allein, sondern auch für die, welche durch ihr Wort an mich glauben werden, auf dass sie alle eins seien, gleich wie du, Vater, in mir und ich in dir; auf dass auch sie in uns eins seien, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast.“

Jesus betete hier um die Reinheit, Klarheit und die Authentizität seiner Nachfolger. Was soll die Welt sehen, wenn sie die Gemeinde anschaut? - Eine Einheit, die darin besteht, dass alles für gleich gültig erklärt wird? Eine Einheit der großen Massen und schönen Gefühle? Eine Einheit nach den Vorstellungen der Menschen? - NEIN!

Jesus betete hier darum, dass seine Jünger „geheiligt“ würden in der „Wahrheit“, dass sie also ganz und gar für die Wahrheit abgesondert und ihr allein verpflichtet seien. Die Wahrheit, so erklärt der Herr in Vers 17, ist Gottes Wort („Dein Wort ist die Wahrheit“). Nur auf diesem Wege, das ist der logische Gedankengang, sah Jesus die Möglichkeit, das große Ziel der Einheit zu erreichen („… damit sie alle eins seien“). Christen werden also dadurch untereinander eins und einig, indem sie das Wort Gottes hören, es lesen, studieren, glauben und tun. Dann sind sie auf einer Wellenlänge. Die Welt soll von unserer auf der Wahrheit Gottes gegründeten Einheit angezogen werden.

Genau diesen Punkt haben jedoch viele, denen heute die Einheit unter Christen wichtig ist entweder aus den Augen verloren, oder sie weisen sie einfach zurück. So kann ich mich heute kaum mehr des Eindrucks erwehren, als laute die Herausforderung unserer Zeit: Einheit statt Wahrheit! Man lässt alles nebeneinander stehen und führt keine Wahrheitsdebatten mehr. Deshalb wird immer nachdrücklicher auch die biblische Lehre als Feind der Einheit bezeichnet. So erscheint es vielen nur vernünftig, „kleinliche Lehrstreitigkeiten“ zu Gunsten der Einheit beiseite zu legen. Aber, auch angegriffene Wahrheit bleibt Wahrheit, die einzige Wahrheit.

Hand in Hand damit geht eine zunehmende Unwissenheit über die fundamentalsten Lehren der Bibel einher. Selbst ernsten Christen aus den protestantischen Kirchen und Freikirchen ist kaum noch klar, was „Gerechtigkeit aus Glauben”, die Haupterkenntnis der Reformation, wirklich bedeutet.

Wer natürlich in unserer postmodernen Welt selbst keine unumstößliche Wahrheit mehr anerkennt, wer selbst über Gott und den Sinn des Lebens im Zweifel ist, der wird auch dazu neigen, anderen das Recht abzusprechen, ihrerseits eine Wahrheit zu bezeugen. Diese Abneigung gegen die Wahrheit ist jedoch eine Abneigung gegen den einen Gott, ist ein Zeichen stolzer Selbstbehauptung, ein Ergebnis der Leugnung der Sünde. - Aber die Bibel kennt und nennt uns den einzigen Weg der Rettung; er besteht in Buße, d.h. Umkehr zu Gott, Unterordnung und Gehorsam Jesus gegenüber und unserer Freude an Gott. („[Meine Seele,] du hast zum HERRN gesagt: Du bist mein Herr; es gibt für mich nichts Gutes außer dir!“ Psalm 16,2)

John Stott sagt dazu: „Die Wahrheit verhärtet sich, wenn sie nicht durch die Liebe weich gemacht wird; die Liebe wird weich, wenn sie nicht von der Wahrheit gestärkt wird.“ Das Gleichgewicht zwischen Wahrheit und Einheit zu halten ist schwierig, aber wir haben keine andere Wahl, als es zu versuchen. Wir müssen das Wasser aus dem Schiff schöpfen, wenn wir an der Hoffnung festhalten wollen, diejenigen zu retten, die sonst verloren gehen.

Manfred Herold

Manfred Herold