Mit Grenzen leben lernen

Der Mensch unterscheidet sich von anderen Lebewesen dadurch, dass er sich seiner Grenzen bewusst werden kann. Grenzen lösen in der Regel Unbehagen oder gar Angst aus. In der Wahrnehmung meiner Grenzen lerne ich mich selbst kennen. Die Persönlichkeitsbildung eines Menschen hängt, vom Säuglingsalter an, wesentlich davon ab, wie er seine Grenzen erlebt und verarbeitet.

Wir erleben und erleiden Grenzen unserer Gesundheit, unserer Leistungsfähigkeit, des zunehmenden Alters, der geistigen und intellektuellen Fähigkeiten, im Beruf, in der Familie; Grenzen durch Katastrophen, Pandemien und Kriege, die Erwartungen anderer oder meine eigenen; Grenzen durch Ängste, Hemmungen, Sünden, Minderwertigkeitsgefühle, Vorurteile, durch Kleinglauben; Grenzen durch die Bilder, die wir von uns, von anderen und von Gott haben.

Die Selbsterkenntnis steht jedoch immer in direkter Beziehung zu unserer Gotteserkenntnis. Ja sie ist geradezu „not-wendig“, denn WENN WIR KEINE GRENZEN ERLEBEN UND ERLEIDEN, FRAGEN WIR NICHT NACH GOTT. Nur der Verlorene erkennt, dass er einen Retter braucht. Nur der Schwache braucht den Starken. Nur der Sünder braucht einen Heiland. - Über die zunehmende Reife deiner Persönlichkeit entscheidet der richtige Umgang mit deinen Grenzen. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten wir dreierlei lernen.

1. Wir müssen es lernen, Grenzen anzunehmen.

Welche Grenzen musst du anzunehmen lernen? - Eltern, Familie, Alter, Geschlecht, Behinderungen, Schicksalsschläge, Tod. Manche Zeitgenossen stimmen hier schon nicht mehr zu, aber die Bibel sagt, dass uns diese Grenzen gesetzt sind. - Der jüngere Sohn im Gleichnis von dem „wartenden Vater“ in Lukas 15 wollte die ihm im Elternhaus gesetzte Grenze nicht annehmen, ließ sich sein Erbe auszahlen und machte sich auf ins autonom bestimmte Leben.

Kinder, denen jeder Wunsch von den Augen abgelesen wird, die nie ein deutliches NEIN, das ein NEIN ist und bleibt, zu Hause hören, lernen keine Grenzen kennen und erweisen sich deshalb häufig schon im Jugendalter als lebensuntüchtig.

Manche Menschen wollen es z.B. einfach nicht wahrhaben, dass sie älter werden und manches nicht mehr so können, wie früher. („Berufsjugendliche“) - Veränderungen im Alltag (Chipkarten), der Gemeinde (Kleidung, Musik) oder der Gesellschaft (Flüchtlinge) stellen für manche Grenzen dar, mit denen sie sich schwer tun. Nicht dass sie sie nicht anerkennen könnten, sie weigern sich, weil das einen erneuten Lernprozess auslösen würde, zu dem sie nicht bereit sind und so bleiben sie rückwärtsgewandt stehen und leiden.

Christen sollten daran erkannt werden, dass sie Grenzen annehmen können, weil sie sich in der Hand des liebenden, weisen, gütigen Gottes wissen, dem alles dienen muss und in dem sie geborgen sind, komme was mag. Er hat versprochen, in jeder Lebenslage und Veränderung, bei uns zu bleiben (Römer 8,28; Psalm 119,91; Matthäus 28,20).

Wir dürfen Grenzen nicht überspielen oder verdrängen. Wir müssen in jedem Einzelfall prüfen, was wir annehmen müssen und was nicht. Was ist Gott grundlegend wichtig und deshalb auch für uns unaufgebbar und was nicht? Für einen Christen ist nicht alles verhandelbar. Allein die klaren Aussagen der Bibel sind für uns maßgebend.

Häufig verstehen wir Gottes Handeln, Seine Wege und Zulassungen nicht, ja wir stoßen und reiben uns daran. Dann haben wir einen Weg vor uns, auf dem es vielleicht durch Rebellion, Resignation, Sich-wieder-aufrappeln, erneutes Verzagen und Ab-trauern, hoffentlich zur Annahme dieser Grenze kommt. Dieses Annehmen ist kein bloßes Akzeptieren, nicht nur ein Sich-fügen ins Unabänderliche, sondern eine echte Arbeit in unserem Inneren: Ein Eingeständnis dessen, was nicht mehr geht, was wir nicht mehr haben oder sind. Es ist echte „Trauer-ARBEIT“.

Trauerarbeit“ ist nicht zu verwechseln mit Resignation, noch ist sie nur ein Bedauern, oder die Traurigkeit darüber, nicht mehr zu können oder zu dürfen, obwohl alle diese Aspekte dazugehören. Trauerarbeit ist auch nicht Rückzug in die Höhle des Selbstmitleids, sondern heißt Annahme der Situation, heißt den Schmerz des Verlusts oder Verzichts zu spüren und ihn anzunehmen. Trauerarbeit ist eine Arbeit, die geleistet werden kann und die zu einem Ziel und Ende kommt. (z.B. Jesus in Gethsemane; Paulus war nach seinem „Grenzerlebnis“ vor Damaskus drei Tage blind. Er wurde sich seiner Grenzen bewusst, die er anzunehmen und mit denen er zu leben hatte; „Seid dankbar in allem“ d.h. in jeder Lebenslage 1. Thessalonicher 5,18 - Nicht „für alles“)

Zeichen für unzureichende Trauerarbeit sind Resignation, unter Umständen auch Depressionen, Hass gegen sich selbst und andere, ständiger Kräfteverlust durch innere seelische Verwundung. Auch Neid, Eifersucht, Missgunst und Beleidigt-sein können Ausdrucksformen unabgetrauerter Grenzsituationen sein. - Welche Grenze fällt dir ein, die du bisher abgelehnt hast? Gerade wurde dir klar, dass du sie annehmen und bejahen solltest. Tu es jetzt!

2. Wir müssen es lernen, Grenzen abzulehnen.

Es gibt jedoch auch Grenzen, die ich, obwohl ich sie ganz stark erlebe, ablehnen und zurückweisen muss. Welche sind das? Grenzen, die mir mein sündhaftes Wesen, Sorgen, Unglauben, Ängste, Vorurteile, Minderwertigkeitsgefühle... verursachen.

Als der jüngere Sohn bei den Schweinen scheinbar am Ende war, lernte er es, diese Grenzen abzulehnen. Er nahm seine unbefriedigende Lebenssituation nicht einfach mehr hin. Es heißt es von ihm: „Da ging er in sich und sagte: ›Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot im Überfluss, während ich hier vor Hunger umkomme! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gegen den Himmel (= Gott) und dir gegenüber gesündigt..“ (Lukas 15,17-18).

Gottes Liebe ist heute noch grenzen-sprengend. Jesus kam, um Grenzen zu sprengen, Ketten zu lösen und Gefangene zu befreien (Lukas 4,18; Johannes 8,36; Psalm 18,30). Er bewies es, indem Er in Seiner Schule aus einfachen Fischern Weltmissionare machte. Hier sollen und können auch wir es lernen, NEIN zu sagen zu den Einflüsterungen unseres eigenen Herzens (Minderwertigkeitsgefühle nicht durch „Selbstliebe“ heilen wollen!), zu den Ansprüchen der Welt („Das tut man heute!“), unserer Freunde und Kollegen („Findest du das etwa nicht gut?“), den Zwängen der Mode und des Trends („Das ist IN!“ - 1. Johannes 2,15).

Wir stehen in der Gefahr Ja-sager zu werden. Alles und jedes wird heute bejaht. Ja-sagen ist „IN“. Nicht weil man wirklich von der Qualität dessen überzeugt ist, was man bejaht, sondern weil es scheinbar alle tun. Muss es da nicht richtig sein? Durch die Bereitschaft, zu allem möglichen schnell „JA“ zu sagen, bekommt der heutige Mensch, und wir Christen sind davon nicht ausgeschlossen, einen leicht hypnotisierbaren Zug. Alle möglichen Verrücktheiten werden einfach mitgemacht, weil andere sie auch machen.

Der entscheidende Fehler liegt darin, dass in all den unterschiedslosen „JA´s“ kein bewusstes, klares „NEIN“ mehr Raum hat. Es gibt jedoch keine geistliche Ordnung ohne ein heiliges „NEIN“, ohne die Kraft zum Entsagen und Sichversagen, zur stillen wie zur offenen Ablehnung (Psalm 1 „Wohl dem, der nicht…!“). Wenn wir es nicht lernen, Grenzen abzulehnen, werden wir als Christen in unserer Zeit untergehen!

Wie häufig habe ich schon zu hören bekommen: „Ich bin nun einmal so. Ihr müsst mich so nehmen wie ich bin.“ Gemeint ist dann oft: „Ich will so bleiben wie ich bin! Lasst mich in Ruhe!“ Hier werden Grenzen angenommen, die im Vertrauen auf die verwandelnde Kraft Gottes zurückgewiesen werden sollten. Er hat es Sich vorgenommen, ganz normale Menschen wie dich und mich in das Bild Christi umzugestalten und Er KANN das auch! Wohl geht das nicht ohne Schmerzen ab, denn Grenzen zu überwinden fällt weder leicht, noch darf, wer dies tut, mit dem Beifall anderer rechnen.

Solange wir leben, bleiben wir in diesem Lernprozess. Auch der in die Freiheit Gottes Gerufene wird es weiterhin lernen müssen, neue Grenzen zu erkennen, anzunehmen und sie von innen her zu bejahen. Da wird ihm Trauerarbeit nicht erspart bleiben, wenn er nicht in blinde Überheblichkeit verfallen will.

In diesem Lernprozess müssen wir darauf achten, die richtigen Grenzen abzulehnen (Grenzen, die aus der Gebundenheit ans Rauchen, an den Alkohol, an Tabletten resultieren) und die richtigen anzunehmen (Grenzen, welche z.B. die Ehe setzt). Hier müssen wir miteinander im Gespräch bleiben und voneinander lernen, sonst nehmen wir Grenzen an, die wir ablehnen sollten und lehnen ab, was wir annehmen sollten. - Welche Grenze fällt dir ein, die du bisher geduldet hast, - die du jedoch, wie dir heute klar wurde, ablehnen solltest? Tu es jetzt!

3. Wir müssen es lernen, Grenzen zu erweitern.

Der dritte Schritt besteht darin, dass wir es lernen, unsere Grenzen zu erweitern. Das ist keine neue Idee, sondern steht von jeher ganz oben auf Gottes Programm für Seine Leute. Sie sollen es lernen, ihre Grenzen nicht nur anzunehmen oder abzulehnen, sondern sie sollen etliche auch erweitern. Schon Jesaja rief das Volk Israel in ihm verständlichen Bildern dazu auf: „Mache weit den Raum deines Zeltes, und deine Zeltdecken spanne aus! Spare nicht! Mache deine Seile lang, und deine Pflöcke stecke fest!“ (Jesaja 54,2)

Das Training der Jünger bestand zu einem großen Teil darin, sich aus ihrem Beruf, ihren familiären Bindungen herausrufen, sich nicht länger von ihrer eigenen Unfähigkeit binden zu lassen, um ihre Grenzen zu erweitern.

Auch der jüngere Sohn hat es gelernt, seine Grenzen zu erweitern, indem er das Glaubenswagnis einging, sich der Gnade und Vergebungsbereitschaft seines Vaters anzuvertrauen - Lukas 15,20-24.

Begrenzungen unseres Charakters lassen sich nicht überspringen, sie müssen in oft mühevoller Kleinarbeit an uns selbst erweitert werden. Es ist eine Sache des Mutes und des Vertrauens, unsere Unarten zu erkennen und abzulegen. Hier spielt für Christen der Heilige Geist, der durch andere Menschen wirkt, die entscheidende Rolle. Wer sich vom Heiligen Geist erfüllen lässt, erlebt es, dass Fähigkeiten in ihm wachsen, die er früher für unmöglich hielt. Er wird zu lieben lernen, wo er früher nur Abneigung und Vorwurf kannte. Jesus wird in uns die Frucht des Geistes wachsen lassen, wenn wir uns darauf einstellen und Ihm gehorchen.

Manche kommen z.B. auch mit den Grenzen, die ein Ehe- und Familienleben mit sich bringt, nicht zurecht. Eine Ehe wird nur dann gelingen, wenn man es miteinander lernt, sowohl Grenzen anzunehmen, als sie auch abzulehnen und vor allem sie zu erweitern.

Wir müssen Gottes Meinung zu unseren Grenzen kennenlernen und wie Paulus darauf eingehen lernen. Er schildert uns eine solche Grenzsituation in 2. Korinther 12 so: „Und damit ich mich wegen der außerordentlichen Offenbarungen nicht überhebe, wurde mir ein Pfahl fürs Fleisch gegeben, ein Engel Satans, dass er mich mit Fäusten schlage, damit ich mich nicht überhebe.(Gott hat ihm Grenzen eingebaut) Seinetwegen habe ich dreimal den Herrn gebeten, dass er von mir ablassen soll. (Grenze) Und Er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft wird in der Schwachheit vollkommen! (Grenze) Darum will ich mich am liebsten vielmehr meiner Schwachheiten rühmen, damit die Kraft des Christus bei mir wohne. Darum habe ich Wohlgefallen an Schwachheiten, an Misshandlungen, an Nöten, an Verfolgungen, an Ängsten um des Christus willen; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark."

DIE REIFE EINER PERSÖNLICHKEIT ZEIGT SICH AM RICHTIGEN UMGANG MIT IHREN GRENZEN. Es gehört zur Aufgabe der Seelsorge, zu guten Entscheidungen zu verhelfen und Mut zu machen zum richtigen Umgang mit unseren Grenzen.

Wenn ich meine gesundheitlichen Grenzen überschreite, werde ich krank und kann bald sterben. Wenn ich meine Fähigkeiten überschätze und mich an Aufgaben wage, die außerhalb meiner Reichweite liegen, kann ich mich blamieren. Wenn ich nie etwas mehr versuche, als ich bisher schaffte, werde ich nie Fortschritte machen. Wenn ich die Erwartungen meiner Mitmenschen enttäusche, kann das zu neuer Freiheit oder aber zur Vereinsamung führen. - Welche Grenze kommt dir heute in den Sinn, die du bisher vielleicht geduldet oder abgelehnt hast und heute wurde dir klar, dass du sie erweitern solltest? Tu es jetzt!


Manfred Herold


Manfred Herold